Der Segen des Alltags

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Der Segen des Alltags
Nach den Weihnachtsfeiertagen und der leeren Zeit "zwischen den Jahren" fällt es vielen Menschen schwer, wieder im Alltag anzukommen. Im Büro, in der Fabrik, in der Schule, im Haushalt. Doch Alltag kann auch gut tun, meint unsere Autorin Karin Vorländer. Wir sollten ihn wertschätzen und uns häuslich - und feierlich! - in ihm einrichten.

Der Alltag kommt oft schlecht weg bei uns: Wir sprechen vom grauen Alltag, vom Alltagseinerlei, vom Alltagstrott. Zu Unrecht, wie ich finde. Denn der größte Teil unseres Lebens besteht aus Alltag: Das Verhältnis ist 6 zu 1. Sieben Tage Alltag, ein Tag Sonntag. Aufstehen, arbeiten, essen. Alle Tage am gleichen Ort, in der vertrauten Umgebung, mit denselben Menschen zu tun haben, das muss aber nicht langweilig, öde und trist sein. Alltag kann gut tun. Und wir tun gut daran, uns den Segen des Alltags bewusst zu machen. Denn wir leben nicht von Höhenflügen und Höhepunkten! Das Sich-Verlieren im Unterhaltsamen, die Jagd nach Abwechslung und immer neuen Erlebnissen, kann rast- und ruhelos machen. Auf der Flucht vor dem Alltag ist man am Ende nirgendwo zu Hause und kommt nicht bei sich selbst an. Ohne Alltag geraten wir schnell außer uns.

"Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von Feiertagen", pflegte meine Großmutter zu sagen. Ein Highlight nach dem anderen, das lässt abstumpfen, das ist wie jeden Tag Sahnetorte und Festtagsbraten. Feier- und Festtage, Höhepunkte und Höhenflüge haben nicht nur ein Ende, sie dürfen auch ein Ende haben!

Dass wir uns auf das Vertraute, Normale, eben auf den Alltag freuen, das merken wir womöglich erst, wenn dieser Alltag plötzlich ausfällt. Wir machen diese Erfahrung, wenn wir uns unfreiwillig für längere Zeit an einem Ort aufhalten müssen, der nicht unser Zuhause ist – zum Beispiel im Krankenhaus. Plötzlich erscheint uns der vertraute heimatliche und häusliche Alltag als lebens- und erstrebenswert, wir sehnen uns nach ihm. Wir wären mit so Wenigem zufrieden, wenn bloß "der Alltag uns wieder hätte"! Es wäre geradezu töricht, wenn wir den Alltag zum schlechteren Teil unseres Lebens erklärten. Was kann helfen, den Charme des Alltags zu entdecken und ihn so zu gestalten, dass er als schön erlebt wird?

Der erste Tag vom Rest meines Lebens

Die Schönheit des Alltäglichen lässt sich zunächst durch durch Dankbarkeit in kleinen Dingen entdecken. Ich beschränke mich auf ein einziges Beispiel aus meinem Alltagserleben: den Wocheneinkauf. Bei einem solchen Einkauf empfinde ich immer neues Staunen und Dankbarkeit. Es hat keine Generation vor uns gegeben, die aus einer solchen Fülle schöpfen konnte. Selbst bei knappem Budget sind die meisten Menschen hierzulande von dem großen Angebot nicht rundweg ausgeschlossen. Jeder sechste Weltbürger kann von solchen paradiesischen Verhältnissen nicht einmal träumen. Und es ist nicht mein Verdienst, dass ich hier und heute lebe. Das habe ich mir nicht aussuchen können, das ist mir zu-gefallen.

Könnte dieser Zu-fall nicht dankbar und demütig zugleich machen und den Blick für die öffnen. denen es längst nicht so gut geht? Ich bin es gerade den Armen schuldig, "alltagszufrieden" zu sein. Die Armen auf der Welt möchten von uns sicher nicht zu hören bekommen: "Wir sind zwar nicht arm; aber unser Leben ist langweilig und öde, weil es so alltäglich ist!"

Den Alltag schätzen lernen, könnte auch heißen: Ich entdecke, wie kostbar und zerbrechlich das Leben ist. Dieser All-tag ist der erste Tag vom Rest meines Lebens. Ein Tag, an dem ich leben darf. Diesen Tag sollte ich nicht gering schätzen. Was ich heute tue oder lasse, wird unverlierbar zu meinem Lebensschatz: Dieser Tag ist es wert, dass ich ihn nicht nur hinter mich bringe, sondern dass ich ihn bewusst erlebe.

Ein liebenswerter Platz im Universum

Der Alltag mit seiner Vorhersehbarkeit und Planbarkeit lässt mich in meinem eigenen Leben Platz nehmen. Wer im Alltag angekommen ist, kann sich "erden" und den eigenen Ort finden. Und dabei geht es um mehr als den Ort, an dem ich arbeite und lebe. Es geht um das Bewohnen des eigenen Alltags und die Beheimatung im eigenen Dasein. Es gibt die eigentümliche Schönheit einer verlässlichen Form, einer guten Ordnung und eines eingeübten Rhythmus'.

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Dabei sind die beiden Fragen: "Was bin ich mir wert?" und "Was ist mir der Alltag wert?" ein Zwillingspaar. Bin ich es mir wert, mich mit Sorgfalt zu kleiden, mir und anderen den Tisch schön zu decken, die Alltagskost zu schmecken, die Natur und die Menschen um mich wahrzunehmen? Den Alltag würdigen, das könnte heißen: sich in der Kunst zu üben, dem eigenen Leben einen stillen Glanz zu verleihen und mit dem Alltag so liebevoll gestaltend und formend umzugehen, wie das ein Kunsthandwerker bei seinem Werk tut.

Wenn man sich langweilt, sobald weder die Pflicht ruft noch das Unterhaltsame lockt, findet man sich selbst offenbar ausgesprochen langweilig. In solchen Fällen kann eine einfache, aber strenge Übung Wunder wirken. Ich lade dazu ein, immer dann, wenn man den Alltag "zum Weglaufen" erlebt, sich für eine halbe Stunde auf einen Stuhl zu setzen, in aufrechter, achtsamer Haltung, ohne Radio, ohne Fernseher, auf den eigenen Atem zu achten und sich dem "puren Dasein" zuzuwenden. Nicht weglaufen, nicht rumzappeln – sondern diese Zeit als Entdeckung einer Kostbarkeit zu begreifen. "Ich bin da" – nichts fehlt! Ich kehre ein bei mir, beim Leben selbst. Ich setze mich einfach still hin und… komme bei mir an. Ich werde mir selbst zur Heimat, zu einem geliebten und liebenswerten Platz im Universum. Es versetzt der Langeweile den Todesstoß, wenn sie mitbekommt: Für einen Menschen, der in der Lage ist, Einkehr zu halten dort, wo gar nichts los ist, hat soeben ein Fest begonnen. Aber man muss es üben.

Wenn es manchmal ein bisschen weh tut…

Aber hat die Lebenskunst, im Alltag präsent zu sein und ihm eine festliche Dimension abzugewinnen, nicht dort ihre Grenze, wo sich Leid oder Krankheit oder ein schwieriges Schicksal einstellen, irgendetwas, das man sich nicht gewünscht hat, das belastend ist, schmerzvoll und mühselig?

Wenn sich das Widrige einstellt, muss man manchmal regelrecht ein wenig "feierlich" werden. Das haben wir als Kinder immer dann erlebt, wenn wir krank waren. Auf einmal kamen wir in den Genuss von ein paar schönen Dingen, die es sonst nicht gab. Wir bekamen Plätzchen und heißen Tee und kalte Wickel und Besuch und vielleicht wurde uns etwas vorgelesen. Wenn schwere Tage kommen, muss man wieder lernen, feierlich mit dem Leben umzugehen, wo es jetzt gerade so dermaßen zerbrechlich und empfindlich ist! Dazu gehört, sich von allem Ballast, auch Terminballast zu befreien. Viele Menschen erfahren ihr Leben deshalb als unbewohnbar, weil sie sich chronisch überfordern!

Es gibt den krankmachenden Alltag, zu dem es freilich selten ohne unsere eigene Mitverantwortung kommt. Aber es gibt auch das ganz normale Krankwerden, wofür ein eigentümlicher Ausdruck in der deutschen Sprache uns rät, "krank zu feiern". Diese Weisheit lässt sich schlecht beziehen auf schwerste Krankheiten, Krisen oder wirkliche Horrorerfahrungen, das wäre zynisch. Aber für dasjenige Maß an Leiden, das in der einen oder anderen Weise eben auch zum Daseinsalltag gehört, lässt sich eine Spur finden, sich mit dem Unangenehmen zu arrangieren durch Nachgeben und Einwilligen – um gerade dann kleine Wohltaten herbeizurufen und mit ihrer Kraft dem Unvermeidlichen zu trotzen.