Wenigstens einer kämpft für Stuttgart 21

Wenigstens einer kämpft für Stuttgart 21
Ständig neue Hiobsbotschaften für das angefeindete Milliardenprojekt - doch ein einsamer Kämpfer widersetzt sich dem Zeitgeist: ein Stuttgarter Pfarrer, der sich "Stuttgart 21" auf besondere Weise verbunden fühlt. Er ist mitverantwortlich dafür.
08.09.2010
Von Thomas Östreicher

Für Johannes Bräuchle fing mit der Loveparade alles an, genauer: mit den Rücktrittsforderungen an die Adresse von Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland. Statt zunächst die Schuldfrage für die Katastrophe mit 21 Toten zu klären, forsche man "nach einem Schuldigen, den man auf ein Schafott schleppen kann, um ihn mit Eventcharakter zu enthaupten".

Als dann auch Stuttgarts Stadtoberhaupt von den Stuttgart-21-Gegnern "als Lügner, Verräter und Betrüger" beschimpft worden sei, "da hab ich gsagt: So geht des net. Das hat dem Fass den Spunden nausgehaue." Er beklagte sich Anfang August in der Lokalpresse über "die Beschädigung der Meinungsfreiheit" und staunte: "Das hat eingeschlagen wie eine Bombe."

[linkbox:nid=20773;title=Fotogalerie]

Davon ermutigt wollte der 62 Jahre alte Schwabe nach eigenem Bekunden "schauen, ob man mit den Gegnern diskutieren kann". Anfang August nahm er Infomaterial und ein Transparent in die Hand und wagte sich unter die vielen Tausend Gegner, die sich regelmäßig vor dem Stuttgarter Bahnhof sammeln, "um in einen konstruktiven Meinungsaustausch zu treten". Zum Meinungsaustausch kam es, aber wenig konstruktiv: Man zerriss seine Flyer und steckte ihm die Schnipsel in die Hemdtasche. Kein schlimmer Angriff, es sei auch niemand verletzt worden, aber, "aja, es isch halt saublöd".

Glaubensstreit um den Bahnhof

Saublöd finden auch viele der Protestanten Bräuchles Tun; seine Pro-Plakate hängen nicht lange am Bauzaun. Dabei gehe es ihm, sagt er, um die Diskussionskultur und die Meinungsfreiheit. Das gelte für beide Seiten: "Solche Projekte können nicht nur von Befürwortern betrieben werden, sondern da muss auch der kritische Dialog mit an den Tisch." Der Streit um S 21 werde jedoch "glaubenskriegsartig hochstilisiert", findet er, und das dürfe einfach nicht sein. "Wir müssen uns auch noch in die Augen schauen können, wenn in einer großen Frage der eine ein Ja hat und der andere ein Nein. Wenn ich da einen Beitrag leisten kann, isch's gut."

Angesichts eines endlosen Expertenstreits zu Sinn, Umsetzbarkeit und Kosten des Tiefbahnhofs und der dazugehörenden Schnellstrecke und ständig neuer Gutachten gewinnt die Auseinandersetzung aber längst Züge eines Glaubensstreits, auch weil sich gleich mehrere Kirchenvertreter auf die Seite der Projektgegner stellen. Dass eine Kollegin im Talar gegen Stuttgart 21 protestiere, "lehne ich schärfstens ab", sagt Bräuchle.

"Ich spreche als Bürger Stuttgarts"

Doch instrumentalisiert er nicht selbst seine Position? "Das weise ich zurück", widerspricht der Landespfarrer energisch. "Ich melde mich seit 30 Jahren am Telefon mit 'Pfarrer Bräuchle', weil ich jederzeit ansprechbar sein muss und will, auch in seelsorgerlichen Fragen." Einst, als Seelsorger in der Trabantenstadt Stuttgart-Freiberg, habe ihm erst die Vorstellung als Pfarrer manche Tür geöffnet. "Das hat sehr viel bei mir geprägt." Den Pfarrer als Namenszusatz habe er seitdem beibehalten, mache allerdings immer deutlich, nicht als Funktionär der Kirche, sondern als Bürger Stuttgarts zu sprechen.

Ganz uneigennützig tut Bräuchle das freilich nicht. Der Pfarrer saß 1999 bis 2004 für die CDU im Stuttgarter Parlament, mit seinem Auftreten verteidigt er jetzt auch seinen eigenen Beschluss zum Bahnprojekt. "Das kann man mir vorwerfen, das ist mir aber wurscht. Denn ich bin Überzeugungstäter." Was nichts daran ändert, dass zwischen Planung und Umsetzung von Großprojekten wie Stuttgart 21 viele Jahre liegen, in diesem Fall sogar Jahrzehnte. Ändert sich in dieser Zeit die subjektive Stimmung in der Bevölkerung und die objektive Finanzlage, haben die Projektbefürworter ein Problem - zumindest ein Vermittlungsproblem.

"Des isch durchaus richtig", räumt Bräuchle auf Schwäbisch ein und setzt hochdeutsch hinzu: "Das ist wirklich ein Dilemma." Und was ist mit den als völlig überzogen kritisierten Milliardenkosten, die neuesten Gutachten zufolge sogar erheblich höher ausfallen werden als vorgesehen? Für die wirtschaftliche Standortsicherung müsse man eben viel Geld in die Hand nehmen. "Billig ist das nicht zu haben."

Einige Dutzend gegen Zehntausende

Johannes Bräuchle produziert mit spürbarem Vergnügen zitierfähige Sätze. Zu den Aufgaben des erfahrenen Öffentlichkeitsarbeiters gehört etwa die kirchliche Präsenz auf Messen und anderen Großveranstaltungen, die kirchliche Themen berühren. "Insofern ist das kein Feld, in das ich mit Ängsten hineingehe", sagt er mit geübtem Understatement.

Mehr noch als Furchtlosigkeit braucht der wackere Anti-anti-Demonstrant allerdings Ausdauer. Bislang zählt er die Projektunterstützer in Stuttgart nach Dutzenden - verglichen mit den nicht nachlassenden Massenprotesten gegen Stuttgart 21 sind das Peanuts, das weiß auch Bräuchle.

Er ist schon zufrieden, wenn zwischen den Protesten wenigstens punktuell eine andere - seine - Stimme zu vernehmen ist. Für dieses Ziel hat er jetzt sogar ein paar Tage Urlaub genommen. Und sein Tipp zur Landtagswahl im März? Da stöhnt Pfarrer Bräuchle: "Wissen Sie, wir haben gelernt, dass ein Dreivierteljahr in der Politik ja schon an die Ewigkeitsdimension heranreicht." Er lacht wieder, räuspert sich und fügt leise hinzu: "Ich gebe da keinen Tipp ab." Schwarz-Grün auf Landesebene "hätte sicherlich was in solch einer Situation". Im Hintergrund kichert die Enkeltochter. 


Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.