Saisonware

Saisonware
In einer Zeit der ständigen Verfügbarkeit ist "Warten können" ein seltenes Gut.

Es gibt Dinge, auf die es sich lohnt, ein ganzes Jahr lang zu warten. Auf Erdbeerkuchen mit Schlagsahne, zum Beispiel. Oder auf Spargel mit geschmolzener Butter. Auch Rhabarberkompott mit Vanillesoße schmeckt am allerbesten an einem Sonntag im Juni. Zum Dessert. An Omas Mittagstisch. Auf dem Balkon, in der Sonne. Weißes Tischtuch, Stoffservietten, Espresso in feinen Tässchen. Und dazu: Löffel um Löffel voll süß-saurer Leibspeise. Himmelsnahrung. Paradiesgericht. Ein Festessen. Es feiert den Frühling. Er hat endlich Saison und mit ihm seine Früchte. Darauf warte ich gern ein ganzes Jahr. Dabei könnte ich, wenn ich wollte, eigentlich zu jeder Jahreszeit Erdbeeren essen. Oder bereits geschälten Spargel. Oder Rhabarberkompott aus dem Glas, mit im Labor ausgeklügelter Rezeptur. Anders als meine Oma bin ich in einer Zeit großgeworden, die genaugenommen keine Saisonware mehr kennt. Alles ist jederzeit verfügbar. Ich brauche nicht zu warten, bis die Zeit und ihre Früchte reif sind. Hab ich Bock auf Erdbeeren, hole ich sie mir. Ein Schiff hat sie mir aus Chile in den Supermarkt gebracht.

Aber ich kaufe sie nicht. Nicht, weil ich jemandem beweisen will, was für ein ökologisch-nachhaltig-denkender Mensch ich bin, sondern weil ich mir etwas erhalten will. Abgeguckt von meiner Oma, die in einer Zeit großwurde, in der nichts jederzeit verfügbar war. Höchstens Kartoffeln. Aber selbst die wurden in den Kriegsjahren knapp. Und obwohl auch sie heute in einer Zeit, in einem Land lebt, in dem man im tiefsten Winter Erdbeeren essen könnte, tut sie es nicht. Erdbeerzeit bleibt Erdbeerzeit. Und die ist nicht im Dezember. Oma wartet. Geduldig. Sie kocht im Winter Kohl und im Herbst Kürbissuppe und lädt zum Spargelessen im Frühling ein. Und ich mache es ihr nach, versuche es zumindest. Ich gönne mir Geduld. Es ist ein kleines Erbe aus vergangener Zeit und vielleicht ein letztes Überbleibsel eines Nicht-immer-Verfügbar-Seins, das ich mir erhalten will. Es macht mich dankbar und auch ein bisschen demütig. Wer bin ich, dass ich glaube, immer alles sofort kriegen zu können? Wer bin ich, wenn ich nicht mehr weiß, wie „Warten“ geht? Wer bin ich, wenn ich vergesse, dass „Satt- und Versorgtsein“ für viele eine echte Sehnsucht ist?

Wenn das Essen auf den Tisch kommt, beten Oma und Opa, in Dankbarkeit und mit einer Hoffnung, die sie einst überleben ließ: „Dir sei, o Gott, für Speis’ und Trank, für alles Gute: Lob und Dank. Du gabst, du wirst auch künftig geben, dich preise unser ganzes Leben. Amen.“

Ich bete mit ihnen.

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