TV-Tipp: "Die Mutigen 56"

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1. Mai, ARD, 21.45 Uhr
TV-Tipp: "Die Mutigen 56"
Hin und wieder ist es gar nicht verkehrt, sich bewusst zu machen, wie gut es uns in vielerlei Hinsicht geht; jedenfalls gemessen an früheren Zeiten. Vieles von dem, was uns heute selbstverständlich erscheint, musste erst erkämpft werden, wie dieses ausgezeichnete Dokudrama zeigt; zum Beispiel die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.

In Deutschland waren Angestellte traditionell besser gestellt als Arbeiter, die sich daher wie Menschen zweiter Klasse behandelt fühlten. Angesichts des kärglichen Lohns waren Überstunden ganz normal, so dass die Arbeitswoche vieler Familienväter bis zu siebzig Stunden umfasste. Erkrankungen waren in ihrem Lebensentwurf allerdings nicht vorgesehen, denn dann gab es nur noch einen Bruchteil des Lohns; also schleppten sie sich notgedrungen auch dann an ihren Arbeitsplatz, wenn sie eigentlich ins Bett gehörten. Das wollten der Deutsche Gewerkschaftsbund und die SPD 1955 ändern; ein entsprechender Gesetzentwurf scheiterte jedoch im Bundestag.

Im Jahr drauf kam es dann zu einem 114 Tage dauernden und somit längsten Arbeitskampf in der Geschichte der Bundesrepublik, in dessen Verlauf schließlich 34.000 Arbeiter in den Werften und Fabriken Schleswig-Holsteins streikten. Von diesem vergessenen Kapitel des Wirtschaftswunders handelt das Dokudrama "Die Mutigen 56". Im Mittelpunkt steht eine vierköpfige Kieler Familie. Alfred Freese (David Bredin) arbeitet in der Howaldtswerft. Als er, von einer Lungenentzündung geschwächt, zusammenbricht, fragt sich seine Frau Emma (Anna Schimrigk), wie sie die beiden Töchter satt kriegen soll. Der Wunsch der älteren, weiter zur Schule gehen zu dürfen, um anschließend eine Ausbildung beginnen zu können, kommt ohnehin nicht in frage. Mehr als Hauswirtschaft brauchten Mädchen nicht zu beherrschen, sie würden ja ohnehin demnächst heiraten. 

Die Spielhandlung wird regelmäßig durch die Erzählungen Beteiligter unterbrochen, viele von ihnen mittlerweile in ihren Achtzigern, aber immer noch so angriffslustig wie damals, wenn sie sich über die Hinhaltetaktik der Fabrik- und Werftbesitzer empören. Die Arbeitgeberseite wird unter anderem durch den von Max Herbrechter als hartleibigen Unternehmer alter Schule angelegten Inhaber der Howaldtswerft repräsentiert; unterstützt wird er von Peter Lohmeyer. Das Schicksal der Arbeiter ist den Kapitalisten völlig gleichgültig, für das Ansinnen der als "Terroristen" diffamierten Streikenden haben sie nur Verachtung übrig: "Diese Proleten beißen die Hand, die sie füttert." Würden sie die Forderungen der Arbeiter erfüllen, bräuchten sie die Tore zu Wochenbeginn gar nicht erst öffnen: "sonntags besoffen, montags blau". Auch die führenden Köpfe der Gewerkschaft sind prägnant besetzt, allen voran mit Ronald Kukulies als Hein Wadle, der als Kommunist sieben Jahre im Konzentrationslager war. 

Ungewöhnlich ist der völlige Verzicht auf historische Einschätzungen, weil die Geschichte ausdrücklich "von unten" geschildert werden soll; in den Gesprächen kommen ausschließlich einstige Arbeiter oder ihre Angehörigen zu Wort. Die weibliche Perspektive war den Verantwortlichen besonders wichtig, um hervorzuheben, wie sich die Rolle der Frau damals zu ändern begann. Hauptfigur des Dramas ist daher die von Anna Schimrigk entsprechend kämpferisch verkörperte Emma, die zudem als Erzählerin durch die Handlung führt; ihre Ausführungen sind mit passenden dokumentarischen Aufnahmen unterlegt. 

Auch hinter der Kamera hat sich der NDR für eine besondere Herangehensweise entschieden: "Die Mutigen 56" ist das Ergebnis einer vorbildlichen Zusammenarbeit zwischen der erfahrenen Spielfilmregisseurin Sabine Bernardi und dem Dokumentarfilmer Ingo Helm. Das Drehbuch haben sie gemeinsam verfasst. Spielszenen, Interviews und Ausschnitte etwa aus zeitgenössischen TV-Berichten ergeben auch dank der Bildgestaltung (Philipp Sichler) eine organische Einheit; die Außenaufnahmen auf dem Werftgelände wirken wie nachträglich koloriert. Die vielen Innenaufnahmen in der Wohnung von Familie Freese lassen den Film zwar etwas sparsam erscheinen, aber die darstellerischen Leistungen machen das wieder wett.

Ein kleiner Clou ist Helm mit Björn Engholm gelungen. Der frühere schleswig-holsteinische Ministerpräsident war als Jugendlicher bei einer Kundgebung dabei, weil er im Rahmen eines Nebenjobs den Lautstärkeregler des Lautsprechers bediente; im Archiv fand sich tatsächlich ein Ausschnitt, auf dem er gut zu erkennen ist. Der Arbeitskampf hat sein politisches Bewusstsein geweckt. Produziert wurde "die Mutigen 56" von der Produktionsfirma Eikon, deren größter Gesellschafter die Evangelische Kirche ist.