Dunkle Familiengeheimnisse

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash/ Joanna Kosinska

Dunkle Familiengeheimnisse
Morgenandacht von Pfarrerin Annette Bassler
05.12.2023 - 06:35
04.07.2023
Annette Bassler
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Die Wahrheit wird euch frei machen. Das hat Jesus mal gesagt (Johannes 8,32). Für mich ist das wie ein Mantra gegen die Angst. Eine Ermutigung, die Wahrheit zu suchen, wo sie lieber verdrängt wird.

Es ist nicht leicht, sich dem zu stellen, was ist. Manche Familien hüten ein Geheimnis über viele Jahre, vielleicht Generationen, weil die Wahrheit den Zusammenhalt und den Familienfrieden sprengen könnte. Aber das Geheimnis ist nicht fort, es sitzt wie ein dicker, unsichtbarer Elefant im Raum. Und macht ihn eng und die Luft zum Atmen knapp.

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar!“, meinte die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. Jesus geht einen Schritt weiter. Er sagt: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“

Eine Freundin hat das erlebt. Sie wollte endlich die Wahrheit wissen. Die Wahrheit über ihren Großvater. Mit ihm ist sie als Kind durchs Dorf und über die Felder gewandert. Er hat in ihr die Liebe zu den Bäumen geweckt. Aber der geliebte Opa war in jüngeren Jahren ein „alter Kämpfer“, ein Nazi der ersten Stunde. Von den Nazis ließ er sich als Bürgermeister in seinem Dorf einsetzen. Er sei „ein Guter“ gewesen, sagte die Familie. Aber wie geht das zusammen: guter Mensch und Gefolgsmann von Hitler?

„Die Wahrheit wirst du in seiner Akte finden“, sagte ein Bekannter meiner Freundin. „Wie alle Nazis in verantwortlicher Position hat er eine Prozessakte. Die liegt im Landesarchiv und die kannst du einsehen.“ Das hat in ihr stürmische Gefühle ausgelöst. Darf ich am Andenken des Großvaters kratzen? Was mache ich, wenn schlimme Dinge zutage treten?

Aber sie fährt hin ins Landesarchiv. Eine Angestellte überreicht ihr die Akte. Fünf Zentimeter dick, grauer Karton. Darauf: Name und Geburtsdatum des Großvaters.

Mit zitternden Knien setzt sie sich in den Lesesaal und klappt die Akte auf. Lauter lose, vergilbte Blätter. Angaben zur Person, Stellungnahme des Angeklagten, Aussagen von Zeugen. Am Ende das Urteil. Festgehalten mit Schreibmaschine, Bleistift oder Rotstift. Sie taucht ein in das Jahr 1947. Zwei Jahre hat der Großvater in einem Gefangenenlager verbracht. Jetzt erfolgt die Anklage: Mitglied eines verbrecherischen Regimes in verantwortlicher Position.

Sie erfährt, dass der Großvater nur eine Lehre als Maurer absolviert hat. Sonst keine Ausbildung, keine Qualifikation. Als Angestellter in einer Versicherung muss er beurteilen, ob den Kriegsversehrten aus dem Ersten Weltkrieg eine Unterstützung zusteht. Das Elend geht ihm ans Herz, er will helfen. Da kommt ihm der Posten des Bürgermeisters gerade recht. Viele Zeugen sagen aus, dass er geholfen und niemanden denunziert habe.

Dass die Hilfe für die Armen nur denen zuteil wurde, die einen Ariernachweis hatten, war kein Problem für ihn. Auch nicht, dass Kommunisten und Juden aus dem Dorf verschwunden sind. Er wusste, dass die Gestapo sie in Konzentrationslager gebracht hat. Was sie ihren Opfern dort angetan haben, davon will er nichts gewusst haben.

Das Urteil über ihn nach dem Zweiten Weltkrieg: Verlust sämtlicher Rentenansprüche – und das mit 67. Aber er geht in Revision und bekommt – fünf Jahre nach Kriegsende - seine Rentenansprüche zurück. Und gilt nur noch als „Mitläufer“.

Als meine Freundin die Prozessakte zuklappt, schwirrt ihr der Kopf. Sie spürt die Wucht des Urteils. Und die Wucht der Wahrheit über ihren Großvater. Die gut und schlimm zugleich ist. Zwar hat er den Armen im Dorf geholfen, aber er hat Befehle zur Vertreibung der Juden im Dorf ausgeführt.

„Was machst du jetzt mit dieser Wahrheit über deinen Großvater?“, habe ich sie gefragt. Sie schüttelt den Kopf. „Ich weiß es noch nicht. Aber ich fühle mich freier. Weil ich jetzt weiß, was er getan und was er nicht getan hat. Er ist noch immer der Opa, den ich geliebt habe. Aber jetzt ist er auch der Mann, der den Opfern der Nazis nicht geholfen hat. Er ist beides gleichzeitig. Dieser Wahrheit ins Gesicht schauen zu können, macht mich freier.“

Es gilt das gesprochene Wort.

04.07.2023
Annette Bassler