epd: Die AfD-Jugendorganisation will sich in Gießen neu gründen. Wie bewerten Sie das als Parteienforscherin?
Dorothée de Nève: Es ist in Deutschland und vielen anderen Ländern üblich, dass Parteien ihre eigenen Jugendorganisationen gründen. Gerade für Parteien, die mit einem erheblichen Mitgliederschwund und zugleich einer Überalterung ihrer Mitglieder zu kämpfen haben - wie zum Beispiel die CDU und die SPD - sind diese Jugendorganisationen sehr wichtig, um die gesellschaftliche Verankerung auch generational zu verbessern.
Die AfD ist im Vergleich zu anderen Parteien eine sehr mitgliederschwache Partei. Sie hat in Deutschland nur etwa 51.500 Mitglieder, in Hessen circa 3.500. Solange die AfD als Partei nicht verboten ist, steht es ihr natürlich frei, auch wieder eine neue Jugendorganisation zu gründen. Es geht um die Interessenvertretung und die Selbstorganisation von Bürgern - in diesem konkreten Fall eben um die Selbstorganisation von jungen Bürgern am extremen rechten Rand des politischen Spektrums.
"Jugendorganisationen sind radikaler als Mutterparteien"
Welche Rolle spielen die Jugendorganisationen von Parteien?
de Nève: Interessant ist, dass die Jugendorganisationen aller Parteien dazu tendieren, etwas radikaler zu sein als ihre Mutterparteien. Das kann man bei allen Parteien beobachten. Die Junge Union ist konservativer und rechter als die CDU selbst. Die Jusos sind linker und radikaler als die SPD. Und der Vorstand der Grünen Jugend ist 2024 zurückgetreten, weil er die in seiner Wahrnehmung zu pragmatische Linie der Grünen für nicht mittragen wollte.
Bei der AfD hatte sich die eigene Jugendorganisation extrem radikalisiert. Das wurde für die Partei als Ganzes zu einem strategischen Risiko, wenn es um die Diskussion eines potenziellen Parteiverbotes geht. Ich wage zu bezweifeln, dass die Neuaufstellung der AfD-Jugendorganisation dieses Problem lösen wird. Denn bereits jetzt zeichnet sich ab, dass da Personen involviert sein werden, die sich jenseits des demokratischen Spektrums bewegen und entsprechende Kontakte in die gewaltbereite rechtsextreme Szene pflegen.
"Die geplanten Veranstaltungen und Proteste werden die Gründung der AfD-Jugendorganisation nicht verhindern, sie werden jedoch die Veranstaltung stören"
Vor der Veranstaltung formiert sich Protest, von einem breiten gesellschaftlichen bis hin zu einem Bündnis, das offenbar eine Neugründung verhindern will. Wie wichtig sind diese Proteste und begleitenden Feste der Demokratie?
de Nève: Die geplanten Veranstaltungen und Proteste werden die Gründung der AfD-Jugendorganisation nicht verhindern. Die Aktionen und Proteste werden jedoch einerseits die Veranstaltung stören. Viel wichtiger ist indes andererseits, dass die Stadtgesellschaft von Gießen und zivilgesellschaftliche Organisationen aus dem ganzen Land ein demokratisches Signal des Zusammenhalts und des Widerstands gegen die wachsende rechtsextremistische Gefahr setzen werden.
Das Erstaunliche ist, dass derzeit ein breites Bündnis entsteht - von den Gewerkschaften bis zu den Kirchen, von Verbänden bis zu Unternehmen und zahlreiche Einzelpersonen und Bürgerinitiativen. Das ist ein starkes Signal für Zusammenhalt und Partizipation. Erstaunlicherweise hat sich die CDU diesem breiten Bündnis allerdings nicht angeschlossen.
Warum hat die AfD derzeit so viel Zulauf?
de Nève: Die Unterstützung für die AfD hat vielschichtige Ursachen. Es gibt eine Gruppe von Bürgern, die die AfD aus inhaltlichen Gründen wählt. Die in diesen Tagen veröffentlichte Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, dass über die Hälfte der Befragten nationalchauvinistische Positionen latent oder aktiv unterstützt. 40 Prozent stimmen fremdenfeindlichen Positionen latent oder manifest zu. Das heißt, es gibt in der Bevölkerung eine Nachfrage, die die AfD direkt bedient.
Und letztlich gibt es auch Wähler, die sich vom Stil der AfD des kontinuierlichen Tabubruchs und der dauerhaften Provokation angesprochen fühlen oder aber den Ängsten erliegen, die in diesen polarisierten Debatten permanent geschürt werden. Der Zulauf der AfD begründet sich darüber hinaus allerdings auch in der Übernahme von deren Positionen durch andere Parteien, etwa in der Migrationspolitik, den Angriffen gegen die Justiz, die Medien und die Wissenschaft. Dadurch wird letztlich die AfD weiter gestärkt und das politische Klima weiter vergiftet.




