Missbrauchsbeauftragte: Einigung mit EKD kommt

Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus hebt die Hand im Interview
© epd-bild/Hans Scherhaufer/Hans Scherhaufer
Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Kerstin Claus sagt, dass Betroffene bei den Institutionen Ansprechpersonen bräuchten. Institutionen müssten verpflichtet werden, selbst nachzuforschen, ob es weitere Missbrauchsfälle gibt.
Sexueller Missbrauch in Kirchen
Missbrauchsbeauftragte: Einigung mit EKD kommt
Die neue Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, ist seit April im Amt. Die 52-Jährige wurde selbst als Minderjährige von einem Pfarrer missbraucht, engagierte sich jahrelang im bundesweiten Betroffenenrat. Nun arbeitet sie zusammen mit dem Familienministerium an einem neuen Gesetz, das die Rechte von Betroffenen stärkt. Im Interview spricht sie über auch über die Aufarbeitung in der katholischen Kirche und in der EKD.

Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) äußert sich die neue Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, über die Rechte von Betroffenen,  Erwartungshaltungen und die Notwendigkeit des EU-weiten Kampfs gegen Kindesmissbrauch. 

epd: Frau Claus, Sie engagieren sich seit vielen Jahren zur Missbrauchsproblematik. Sie waren bis zu Ihrer Berufung unter anderem im Betroffenenrat bei Ihrem Vorgänger, Johannes-Wilhelm Rörig. Was bedeutet der Rollenwechsel für Sie?

Kerstin Claus: Manches ist heute einfacher als früher. Heute mache ich mich als Vertreterin der Bundesregierung für diese Themen stark. Ich bin natürlich noch dieselbe Person - aber ich werde nicht mehr als emotionale Aktivistin dargestellt, wie es teilweise vorher geschah.
Eine große Herausforderung für mich ist, dass durch meine Berufung die Belange der Betroffenen mehr Gewicht erhalten haben. Das erhöht natürlich auch die Erwartungshaltung. Ich sehe eine große Verantwortung darin, mehr für die Betroffenen zu erreichen.

In Köln klagt jetzt ein Mann auf rund 800.000 Euro Entschädigung für jahrelange Quälereien durch einen katholischen Priester. Matthias Katsch, der 2010 die Missbrauchsdebatte mit ins Rollen gebracht hat, spricht von einer "Wendemarke". Wie bewerten Sie solche Klagen?


Claus: Ich finde es sehr wichtig, dass es zu dieser Klage gekommen ist. Ich halte das für einen richtigen Schritt, weil er eine Klärung herbeiführt, welche rechtsstaatlichen Mittel Betroffene haben. Es wird auch geklärt, welche Verpflichtungen kirchliche Institutionen haben, deren Beschäftigte Gewalttaten verüben.

Zwölf Jahre nach der Aufdeckung der Missbrauchsskandale in den Kirchen - diese Klage kommt spät, oder?

Claus: Ja, sie kommt spät. Viele Betroffene sind sicher vor einem Verfahren gegen die Kirche zurückgeschreckt. Solche Verfahren können sehr langwierig und belastend sein. Als Betroffene oder Betroffener muss man in einer stabilen Situation sein, insbesondere, da man das Geschehene vor Gericht beweisen muss. Wenn man auf zeitnahe Entscheidungen und Hilfen angewiesen ist, ist wahrscheinlich von diesem Weg abzuraten.
Aber jetzt, nach den vielen Missbrauchsstudien und Veröffentlichungen, sind wir an einem Punkt, an dem es für die Kirchen kein Ausweg mehr sein darf, die juristische Verantwortung allein auf die unmittelbaren Täter oder Täterinnen zu schieben. Vor diesem Hintergrund wird es auch nicht vermittelbar sein, wenn sich die Kirche in diesen Fällen auf eine mögliche Verjährung beruft.

Ihr Vorgänger hat mit der katholischen Kirche eine Vereinbarung über die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle getroffen. Mit der EKD wird auch schon länger über eine solche Vereinbarung verhandelt. Wann kommt es dort zum Abschluss?

Claus: Ich habe den Prozess schon in meiner früheren Funktion als Mitglied des Betroffenenrats beim Unabhängigen Beauftragten begleitet. Für die Vereinbarung müssen wir noch zwei Punkte genauer anschauen: Zum einen geht es um die Beteiligung von Betroffenen in regionalen Aufarbeitungskommissionen.
Zum anderen bleibt die Frage der Größe der regionalen Verbünde aus verschiedenen evangelischen Landeskirchen, die für die Aufarbeitungskommissionen zusammenarbeiten. Diese Verbünde dürfen nicht zu groß sein. Betroffene müssen einen leichten Zugang zur Aufarbeitung haben - sowohl als Mitglieder der Kommissionen als auch als Menschen, die ihre Geschichte erzählen. Wenn die Verbünde zu groß sind, ist das nicht mehr möglich.

Bis wann könnte eine Vereinbarung stehen?

Claus: Ich gehe davon aus, dass es 2023 wird.

Wie sehen Sie die neue Betroffenenbeteiligung in der EKD?

Claus: Dieses Aufarbeitungsforum ist eine ganz neue Form. Es setzt auf Kooperation zwischen den Vertretenden der Institution Kirche und den Betroffenen. Im Moment kann ich noch nicht beurteilen, inwiefern das zu einer Stärkung der Rechte von Betroffenen führt. Die Betroffenen bräuchten meiner Meinung nach ein eigenes, unabhängiges Gremium, in dem sie sich beraten können. Sie brauchen ein klares Mandat.

"Die Betroffenen bräuchten meiner Meinung nach ein eigenes, unabhängiges Gremium, in dem sie sich beraten können."


Zudem ist es nicht gelungen, die Gruppe der kirchennahen und die der kirchenfernen Betroffenen zusammenzubringen. Daher stellt sich die Frage, mit welcher Legitimierung die jetzt Beteiligten die große Gruppe der Betroffenen repräsentieren.

Es gibt nun mit dem "Brave Movement" ein internationales Betroffenennetzwerk. Welchen Einfluss können solche Netzwerke nehmen?

Claus: Das Netzwerk verfolgt grundlegende politische Zielsetzungen auf internationaler Ebene. Solche Vernetzungsstrukturen können Perspektiven etwa von politischen Entscheidungsträgern verändern. Die Vernetzung von Betroffenen ist elementar. International wie national. Wir sind in meinem Amt gerade dabei, eine Betroffenen-NGO in Deutschland aufzubauen. Denn es gibt viele gemeinsame Anliegen, was die gesundheitliche Versorgung, die Anerkennungs- und Entschädigungszahlungen oder die Aufarbeitung angeht.


Die Ampel-Koalition will die Bedingungen für eine unabhängige Aufarbeitung von Missbrauchstaten verbessern und gesetzlich regeln. Was muss in diesem Gesetz stehen?

Claus: Betroffene müssen mit Rechten versehen werden, beispielsweise das Recht auf Akteneinsicht. Ansonsten hängt es immer von Zufällen ab, ob sie die nötigen Informationen bekommen. Sie brauchen bei den Institutionen Ansprechpersonen.

"Betroffene müssen mit Rechten versehen werden, beispielsweise das Recht auf Akteneinsicht."

Und Institutionen müssen verpflichtet werden, selbst nachzuforschen, ob es weitere Fälle gibt. In der Vergangenheit hat sich immer wieder gezeigt, dass es keine Einzelfälle waren, wenn man nachgeforscht hat.

Wie weit sind die Vorarbeiten für das Gesetz?

Claus: Derzeit werden im zuständigen Familienministerium und hier im Amt Eckpunkte entwickelt. Dabei geht es auch um die Absicherung der Aufarbeitungskommission, die bei meinem Amt angesiedelt ist, über 2023 hinaus. Mir ist zudem wichtig, dass hinter einem solchen Gesetz nicht nur die Regierungskoalition steht, sondern möglichst alle demokratischen Parteien.

Und wie ist der Zeitplan?

Claus: Das Gesetz sollte aus meiner Sicht vor der Sommerpause des kommenden Jahres beschlossen sein.

Wie stehen Sie zu der Forderung, die Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen, um Tätern im Internet auf die Spur zu kommen?

Claus: Es gibt viele Instrumente zur Verfolgung der Täter und Täterinnen, die Vorratsdatenspeicherung ist nur eines davon. Wir brauchen europäische Antworten auf die Missbrauchskriminalität im Internet. Das Netz ist kein nationaler Raum. Ein sehr guter und richtiger Weg ist, dass die Europäische Union dazu vor Kurzem eine EU-Richtlinie vorgelegt hat.
In Deutschland sieht man vor allem zwei Pole: Datenschutz und Kinderschutz. Aber dazwischen ist sehr viel möglich. Ich möchte keine verkürzten Debatten über die Vorratsdatenspeicherung oder über Chatkontrollen.

Damit sollen unter anderem bestimmte Plattformen zur Vorbeugung verpflichtet werden, etwa dadurch, dass sie sichere Accounts für Kinder einrichten. Aus Kommissionskreisen hört man aber, dass gerade aus Deutschland viel Widerstand gegen die Richtlinie kommt, insbesondere gegen die geplanten Chatkontrollen.

Claus: Die Debatte in Deutschland ist zu wenig differenziert. Da geht es meist um die private Kommunikation und die Forderung, dass diese verschlüsselt bleiben soll. Aber dann muss man doch zugleich sicherstellen, dass in den öffentlichen Chaträumen nicht Kinder und Jugendliche ihre private Telefonnummer an potenzielle Täter abgeben können.
Bei den Kontrollen geht es darum, Interaktionsrisiken für Kinder zu minimieren, zum Beispiel wenn die erste Kontaktaufnahme eines Täters oder einer Täterin über den Chat eines Online-Spiels erfolgt. Diese Chaträume sind keine private Kommunikation, sondern öffentliche Chats. In der EU-Richtlinie geht es auch darum, dass diese öffentlichen Chaträume für Kinder sicher sind.

Sie werden sich also für eine Zustimmung zu der EU-Richtlinie einsetzen?

Claus: Ich halte es für extrem wichtig, dass diese EU-Richtlinie kommt. Es wird Punkte geben, wo man Abstriche machen muss. Aber im Großen und Ganzen ist diese Richtlinie sehr wichtig.
Um ein Bild zu gebrauchen: Würden wir beobachten, dass wildfremde Menschen in Trauben um Kinder herumstehen, die auf einem Spielplatz spielen, dann würden wir unser Kind dort nicht spielen lassen. In der digitalen Welt aber lassen wir unsere Kinder sehr allein.