"Ende der Staatsleistungen an Kirchen unrealistisch"

Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann
© epd-bild/Gerhard Baeuerle
Winfried Kretschmann äußert sich kritisch zum Ende der Staatsleistungen an Kirchen, rät aber: "Die Kirchen sollten abwägen, in welchem Umfang sie nach 200 Jahren an Ansprüchen festhalten wollen."
Winfried Kretschmann im Interview
"Ende der Staatsleistungen an Kirchen unrealistisch"
Auch wenn die Ampel-Koalition in Berlin eine Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen vorbereitet: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) erwartet nicht, dass das in den nächsten Jahren umgesetzt wird.

"Ich glaube, es gibt günstigere Zeitpunkte für die Ablösung als jetzt", sagte der katholische Regierungschef dem Evangelischen Pressedienst (epd). Außerdem erklärte er, wie der Reformator Martin Luther seine Politik beeinflusst.

epd: Herr Ministerpräsident, der Koalitionsvertrag in Berlin dringt darauf, die Staatsleistungen für die Kirchen - im vergangenen Jahr bundesweit rund 590 Millionen Euro, in Baden-Württemberg 137 Millionen - abzulösen. Wie stehen Sie dazu?

Winfried Kretschmann: Der Auftrag dazu steht im Grundgesetz, er stand davor in der Weimarer Reichsverfassung. Er ist nur nie angepackt worden. Die Ampel-Koalition hat diesen Auftrag nun angenommen. Aber es wird sicherlich eine große Herausforderung, das umzusetzen. Denn es geht um sehr, sehr hohe Summen der Ablösung.

Ein Gesetzentwurf sah vor, den Kirchen als Ablöse einmalig das 18,6-Fache der Leistung des Jahres 2020 zu bezahlen. In Baden-Württemberg wären das dann fast 2,5 Milliarden Euro. Eine realistische Idee?

Kretschmann: Wie soll das gehen ohne neue Schulden, die wir ja nicht machen dürfen, sonst könnte ich einfach Kredite aufnehmen. Woher sollen wir jetzt zweieinhalb Milliarden bekommen?

Verstehen Sie Menschen, die sagen: Nach mehr als 200 Jahren Staatsleistungen ist auch mal genug bezahlt?

Kretschmann: Ja. Man muss sehen, dass die Staatsleistungen auf Enteignungen Anfang des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Im Gegenzug wurden Leistungen des Staates festgelegt. Dafür bezahlen wir noch heute. Es ist allerdings schwer zu vermitteln, dass man nach 200 Jahren immer noch solche riesigen Beträge zahlen muss. Wir sind durch Verträge daran gebunden, diese Staatsleistungen zu erbringen, ob uns das gefällt oder nicht. Wir leben in einem Rechtsstaat, und an Verträge muss man sich halten.

Angenommen, die Kirchen würden auf einen Teil ihrer Ansprüche verzichten: Ab welchem Betrag wäre denn aus Ihrer Sicht das Verhandeln sinnvoll?

Kretschmann: Es wäre nicht ratsam, hier eine Zahl in die Welt zu setzen. Machen wir uns nichts vor, in diesem Fall würde hart verhandelt, es geht um riesige Summen. Die Kirchen sollten aber abwägen, in welchem Umfang sie nach 200 Jahren an Ansprüchen festhalten wollen.

"Die Kirchen sollten aber abwägen, in welchem Umfang sie nach 200 Jahren an Ansprüchen festhalten wollen."

Was wäre denn Ihr Szenario, die schon seit mehr als 100 Jahren in der Verfassung gebotene Ablösung umzusetzen?

Kretschmann: Erstmal muss der Bund das Grundsätzegesetz verabschieden, um die Rahmenbedingungen für die Ablösung festzulegen. Ob und wie es dann umgesetzt werden kann, muss man verhandeln. Das hängt im Kern ab von der Höhe, die man da aushandelt, ob wir das überhaupt stemmen können. Erst recht jetzt nach Corona, wo wir große Schulden gemacht haben. Dazu kommen nun die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs. Wir müssen mehr für Verteidigung ausgeben. Ich glaube, es gibt günstigere Zeitpunkte für die Ablösung als jetzt.

Am Mittwoch beginnt in Stuttgart der Katholikentag. Er war das letzte Mal im September 1964 in Stuttgart, da waren Sie gerade 16. Das damalige Thema "Wandelt Euch durch ein neues Denken" könnte aber auch für heute passen, oder?

Kretschmann: Ja, denn wir stehen vor fundamentalen Herausforderungen: Klimawandel, Bewahrung der Schöpfung, jetzt auch der Ukraine-Krieg. Putin zerbombt ja nicht nur die Ukraine, sondern er hat auch die Nachkriegsordnung zerschossen. Wir kommen in eine ganz neue Zeit hinein in vielerlei Hinsicht. Und unser Glaube muss zeitgenössisch sein.

"Wir kommen in eine ganz neue Zeit hinein in vielerlei Hinsicht. Und unser Glaube muss zeitgenössisch sein."

Ist es aus Ihrer Sicht gut, dass der Katholikentag auch politisch ist?

Kretschmann: Das Christentum ist eine politische Religion, eine Gemeinschaftsreligion. Es geht zwar auch um das persönliche Heil, aber es geht letztlich um das Heil aller. Deshalb ist das Christentum eine Missionsreligion. Bei den Großveranstaltungen wird deutlich: Wir Christen sind nicht für uns selber da, sondern für andere. Das sagt ja schon das Hauptgebot "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst".

Was erwartet uns bei Ihrer Bibelarbeit zu den Ursprüngen der christlichen Gemeinde?

Kretschmann: Wahrscheinlich eine eigenwillige Auslegung. Ich bin ja kein Theologe, Gott sei Dank habe ich aber einen guten Theologen im Staatsministerium, mit dem ich über den Bibeltext im Gespräch bin. Aber die eigentliche Bibelarbeit, die Auslegung des Textes ist dann von mir.

Die katholische Kirche hat aufgrund von Missbrauchsskandalen erheblich an Ansehen in der Öffentlichkeit verloren. Kann ein Katholikentag daran etwas ändern?

Kretschmann: Missbrauch von Kindern ist Verrat am Evangelium. Seine Vertuschung und sich mehr um die Institution zu kümmern als um die Opfer ebenfalls. Darüber muss die Institution Kirche Rechenschaft ablegen, und das kann sie nur tun, indem sie die Vorgänge aufarbeitet, Reue und Buße tut und Voraussetzungen schafft, dass das in Zukunft nicht mehr vorkommt. Der Katholikentag widmet sich diesen Fragen, ebenso der Synodale Weg. Wenn die Kirche sich vom Evangelium entfernt und es verrät, muss sie sich reinigen. Es war schon immer die Aufgabe von Kirchen- und Katholikentagen, wie es im Neuen Testament heißt: Zeugnis zu geben von der Hoffnung, die Christen erfüllt.

Im Staatsministerium steht eine kleine Luther-Statue im Treppenhaus, an der Sie regelmäßig vorbeigehen. Beeinflusst der Reformator Martin Luther Ihre Politik?

Kretschmann: Ich bin jüngst für einen Vortrag der Frage nachgegangen, ob ein christlicher Politiker für Waffenlieferungen in die Ukraine sein darf. Luthers Zwei-Reiche-Lehre hat mir dabei wertvolle Einsichten geschenkt. Jesus hat für das Reich des Glaubens Waffen abgelehnt - mit dem Ergebnis, dass er gekreuzigt wurde. Ich bin aber Ministerpräsident von Baden-Württemberg, von einem Bundesland, also sozusagen in "einem Reich von dieser Welt". Der Staat muss seine Bürgerinnen und Bürger schützen vor Aggression von außen und Gefahren von innen. Deshalb habe ich mit Waffenlieferungen an die Ukraine, die ihrer Selbstverteidigung dienen, auch als christlicher Politiker kein moralisches Problem und sehe mich durch Martin Luther darin bestärkt.

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