"Sex gilt als eine Gabe Gottes"

Indische Miniatur aus der späten Mogulzeit
© bpk/Museum für Islamische Kunst, SMB/Georg Niedermeiser
Diese indische Miniatur aus der Spätmoghulzeit ist das Cover-Motiv von Ali Ghandours Buch "Liebe, Sex und Allah".
"Sex gilt als eine Gabe Gottes"
Zwangsehen, Homophobie und Sexmigranten: Wenn Medien heute über Muslime berichten, dann fallen schnell Kampfbegriffe wie diese. In seinem Buch "Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime" öffnet Ali Ghandour hingegen den Blick in eine Welt sexueller Ungezwungenheit und Vielfalt, die im Westen wie in der muslimischen Welt heute weitgehend unbekannt ist. Fabian Goldmann hat mit dem Theologen gesprochen: über homoerotische Dichtkunst, Analverkehr im Koran und warum die Sexualmoral heutiger Islamisten eher der der katholischen Kirche ähnelt.

In Ihrem Buch schildern Sie eine Welt sexueller Freiheiten, wie sie den meisten von uns unbekannt sind. Geben Sie uns einen Einblick in das Sex- und Liebesleben eines Muslims z.B. in Bagdad des 10. Jahrhundert. Wie unterschied es sich von einem Bewohner des europäischen Mittelalters?

Ali Ghandour: Das Interessante dieser Zeit waren nicht die relativen sexuellen Freiheiten, sondern eher die Tatsache, dass mehrere Lebensweisen und -entwürfe nebeneinander existierten. Eine Person aus dem Bagdad des 10.Jahrhundert konnte sowohl Frauen als auch junge Männer begehren und über ihre Beziehungen in Form von Gedichten erzählen, ohne dass sie ihren gesellschaftlichen Status verloren hat. So ein Phänomen hat man in den meisten urbanen Milieus bis ca. zum 18.Jahrhundert.

Wie unverkrampft Muslime mit dem gleichen Geschlecht umgingen, dürfte Leser ihres Buches am meisten überraschen. Homosexualität war Ihren Schilderungen nach zu vielen Zeiten weit verbreitet.

Ghandour: Ja, genauer gesagt, die gleichgeschlechtlichen Beziehungen waren zumindest in den urbanen Milieus ein bekanntes Phänomen. Dies bezeugen zahlreiche Gedichte, Anekdoten, oder historische Erzählungen. Diese Beziehungsformen sind in allen Gesellschaftsschichten dokumentiert, sowohl bei Sultanen als auch bei einfachen Menschen.

Heute liest man häufig, dass schon der Koran Homosexualität verbiete. Schnell landet man dann bei der Geschichte von Lot, den Bibelleser aus der Sodom-Erzählung kennen. Wurde die Geschichte von Muslimen früher anders verstanden als heute?

Ghandour: Das Verständnis hat sich eigentlich mit der Zeit kaum verändert, allerdings behandelt die Lot-Geschichte auf keinen Fall die Homosexualität, weil der Koran diese Kategorie gar nicht  kennt. Was diskutiert wurde, war der Analverkehr, nicht die Neigung oder Liebe zu Männern. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass in den urbanen Milieus gleichgeschlechtliche Beziehungen trotzdem eingegangen wurden, obwohl die Schriftgelehrten sie als verboten sahen. Das meine ich mit der parallelen Existenz mehrerer Diskurse.

"Früher hat man eher über konkrete sexuelle Handlungen gesprochen"

Sie schreiben, das Verständnis einer homosexuellen Identität tauche auch in Europa erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Das müssen sie uns kurz erklären.

Ghandour: Die Homosexualität als Kategorie unter welche Neigungen, Verhaltensmuster oder Praktiken fallen, ist in der Tat ein Konstrukt der Sexualwissenschaften des 19.Jahrhunderts. Früher hat man eher über konkrete sexuelle Handlungen gesprochen. Neigungen oder Identitätsmerkmale waren kein Gegenstand einer Untersuchung, geschweige denn einer Normierung.

Auch wenn die Kategorie „Homosexualität“ in der muslimischen Welt lange unbekannt war, waren doch auch dort zu vielen Zeiten schwere Strafen für zum Beispiel Analverkehr vorgesehen. Hat das Liebesleben der Muslime darunter nicht gelitten?

Ghandour: Die Strafen für Sexualdelikte waren vor dem 20. Jahrhundert theoretischer Natur. In den uns vorhandenen Quellen zwischen dem 8. und 19. Jahrhundert haben wir nur vereinzelte Fälle, in denen Körperstrafen angewandt wurden. Ansonsten gab es Tavernen, Hamams, Bordelle, private Sitzungen, gleichgeschlechtliche Beziehungen und vieles mehr und Erotik wurde in homoerotischen Gedichten, Schattentheatern und Erzählungen thematisiert, so dass man sehr schwer von Einschränkungen durch die theoretische Gesetzgebung sprechen kann.

In Ihrem Buch heißt es, Sex unter Männern sei zu manchen Zeiten so populär gewesen, dass Prostituierte bessere Chancen hatten, wenn sie sich als Mann verkleideten. Weiß man etwas darüber, warum sich gerade in der islamischen Welt so viele Männer dem gleichen Geschlecht zugezogen fühlten?

Ghandour: Man kann die  Frage auch anders stellen: warum waren nur im christlichen Europa solche Beziehungen streng verboten und bestraft? Denn die Muslime bildeten, was die gleichgeschlechtliche Liebe angeht, keine Ausnahme. Wir wissen, dass in der Vormoderne solche Beziehungen auch in Indien, China oder Japan existierten. Es ist interessant, dass man bei heterosexuellen Beziehungen nicht nach Begründungen sucht, aber bei gleichgeschlechtlichen schon, wobei beide von vielen Faktoren abhängen, die beide gleichermaßen betreffen. Hier gibt es also einen einseitigen Erklärungsdrang.

Kann das auch etwas mit der strikten Geschlechtertrennung in muslimischen Gesellschaften zu tun haben? War gleichgeschlechtlicher Sex schlicht eine Ersatzhandlung?

Ghandour: Eine mögliche Erklärung geht eigentlich vom Gegenteil aus, und zwar, weil es damals möglich war, Sklavinnen zu erwerben, waren weibliche sexuelle Partnerinnen leicht zugänglich. Aber ich persönlich halte von diesen Erklärungsmustern nicht viel, weil sie in sich eine latente Homophobie tragen.

"Seine Partnerin bzw. seinen Partner sexuell zu befriedigen, ist eine Wohltat, die gottgefällig ist"

Eine Erklärung für die Abwertung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, die man auch heute noch häufig hört, ist, dass Sex nun mal primär der Fortpflanzung diene. Darüber hinaus galt auch zwischengeschlechtlicher Sex in der europäisch-christlichen Geschichte häufig als etwas Sündhaftes oder Widernatürliches. Wer besonders gottgefällig sein wollte, lebte am besten enthaltsam. Wie haben islamische Theologen Sex bewertet?

Ghandour: Die Haltung der muslimischen Theologen ist in der Tat eine positive. Sex gilt als eine Gabe Gottes, für die der Mensch dankbar sein soll und die er auch genießen darf. Die sexuelle Lust an sich war nicht verteufelt. Aus diesem Grund ist die sexuelle Enthaltsamkeit in der Regel kein Ideal und wurde sogar in den meisten theologischen Diskursen kritisiert. Seine Partnerin bzw. seinen Partner sexuell zu befriedigen, ist sogar eine Wohltat, die gottgefällig ist.

Das Thema muslimische Sexualität zieht sich durch die europäische Kulturgeschichte. Rückkehrende Kreuzfahrer berichteten schockiert über die Sündhaftigkeit der Sarrazenen. Orientmaler des 18. und 19. Jahrhundert malten am liebsten nackte, willenlose Frauen. Und heute titeln Medien über Zwangsehen, Homophobie oder sexuell enthemmte Migranten. Woher kommt eigentlich die westliche Obsession für das Sexualleben von Muslimen?

Ghandour: Von einer westlichen Obsession würde ich nicht reden. Denn es waren immer nur Gruppen und nicht alle Menschen im sogenannten Westen, die solche Vorstellungen verbreiteten. Das Interesse für das Sexualleben der Muslime dient als Abgrenzungsmechanismus durch den das eigene „Wir“ konzipiert wird. Indem man dem Anderen gewisse Eigenschaften zuschreibt und ihn in einer bestimmten Form imaginiert, will man eigentlich ein Bild von sich selbst haben bzw. bestätigen, nach dem Motto: ich bin das nicht, was der Andere ist. Das erhoffte Selbstbild allerdings unterscheidet sich von Epoche zu Epoche.

Die Kirche hat sich abgegrenzt, um sich als Vertreterin des wahren monotheistischen Glaubens zu profilieren; Orientalisten haben im Orient einen Ort der sexuellen Freiheiten konstruiert, die sie für sich selbst erträumten; und heute dient manchmal das Erforschen des Sexuallebens der Muslime indirekt ihrer Rassifizierung, als ob sie eine Ethnie oder eine homogene Gruppe wären.

Heute erinnert die Einstellung vieler Muslime zur Sexualität selbst eher an die Sexualmoral der katholischen Kirche. Die islamische Welt steht für Homophobie und sexuelle Verklemmtheit. Was ist passiert?

Ghandour: In den letzten 200 Jahren fanden viele Transformationen statt, die entweder durch den direkten Einfluss des Kolonialismus in Gang gesetzt wurden oder im Zuge der Auseinandersetzung mit der Moderne entstanden. Muslime zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert gerieten in einen Prozess der Selbstverleugnung, indem sie Aspekte aus ihrem Leben und Geschichte, welche dem damaligen, von den Kolonialherren propagierten Zivilisationsbegriff widersprachen, verleugneten.

Können Sie ein Beispiel für diese Selbstverleugnung nennen?

Ghandour: Beispielsweise fingen die Muslime an, gleichgeschlechtliche Beziehungen oder die explizit erotische Sprache in der Dichtung zu vermeiden. Im 20. Jahrhundert kam die massive Zuwanderung in die Städte als Faktor hinzu. Dies beschleunigte den Untergang der urbanen Kultur, die für Jahrhunderte einen relativ offenen Umgang mit dem Sexuellen ermöglicht hatte. Ein weiterer Faktor ist, dass in den jungen Nationalstaaten die Kontrolle der Sexualität mit der Machtausübung verknüpft wurde. Zudem entstanden Ideologien wie der Islamismus.

Sie schreiben, von diesem Traditionsbruch hätten sich die Muslime nie erholt. Können wir dennoch Überbleibsel dieser vergangenen Zeiten im heutigen Leben der Muslime finden?

Ghandour: Ja, das können wir. Die Überbleibsel sind beispielsweise in der reichen Literatur zu finden. Dazu kommt, dass wir auch heute in manchen Ländern z.B. die Akzeptanz eines dritten Geschlechts finden, das dort eine lange Tradition hat. Auch in der Volksmedizin ist noch manches zu finden.

Aber es reicht nicht, nach Überbleibseln zu suchen oder an ihnen hängen zu bleiben, sondern Muslime sollen sich Gedanken über die Erotik und den Sex machen, im Einklang mit den verschiedenen Erkenntnissen unserer Zeit. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit soll lediglich dazu dienen, aufzuzeigen, dass positive muslimische Einstellungen zum Sex und zur Erotik möglich sind.