Was ist heute eigentlich noch ein Wunder?

Was ist heute eigentlich noch ein Wunder?
Was bleibt heutzutage, wo fast alles machbar erscheint, noch übrig von "echten Wundern"? Und was interessiert uns überhaupt immer noch so sehr daran?
15.01.2010
Von Georg Klein

Die Werbung zeigt ununterbrochen Wunder. Stündlich wird verkündet, wie uns ewige Jugend, Schönheit, Erfolg und Liebe zuteilwird, wenn wir nur das richtige Produkt kaufen. In strahlenden Farben werden erstaunliche Ereignisse gezeigt: Die Haut strafft und verjüngt sich innerhalb von Sekunden, die Schönheiten auf der Straße drehen sich plötzlich um nach dem schüchternen Mannsbild. Das Auto verwandelt sich in eine kraftstrotzende Raubkatze und das gefährliche Glitzern in ihren Augen hat sich auf magische Weise auf den Blick des Fahrers übertragen.

Durchbrechung der Naturgesetze

Vielleicht ist das ein Grund, warum Wunder heutzutage keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Versprochen werden sie täglich, aber die Realität ist eine andere, die nach unabänderlich scheinenden Gesetzen funktioniert. Trotzdem muss die menschliche Sehnsucht nach Veränderung dieser Zwänge eine große sein, sonst könnte nicht eine ganze Werbe, Film und Spieleindustrie davon leben. Ganz abgesehen davon, dass auch der technische Fortschritt, der früheren Generationen wie Gottes oder Teufelswerk erscheinen muss, ohne diesen Antrieb nicht möglich wäre. Wunder sind also, unabhängig davon, ob sie erklärbar sind oder nicht, "echt" sind oder "falsch", immer ein Ausdruck des Wunsches, die Beschränkungen unserer Existenz zu überwinden.

Nicht, dass es heutzutage keine Wunder mehr gäbe. Ob raffinierte Täuschung oder tatsächlich unerklärlich, immer wieder tauchen entsprechende Berichte in den Medien auf. Meistens in kleinen Nebenbeiträgen, um die Rubrik Seltsames und Vermischtes aufzufüllen und um die Neugier des Lesers oder Zuschauers anzustacheln. Allerdings hat sich der Begriff Wunder im Laufe der Jahrhunderte verändert. Bevor im Zuge der Aufklärung die Naturgesetze allgemein anerkannt wurden, galt alles als ein Wunder, was ein Wesen (Götter, Menschen, Feen etc.) über den ihm zugeordneten Bereich hinaus, vollbrachte. Wenn also eine Quelle scheinbar grundlos versiegte, konnte das bereits der Eingriff eines Gottes oder einer Nymphe und somit ein Wunder gewesen sein. Seit der Aufklärung und praktisch bis heute gilt ein klassisches Wunder als eine Durchbrechung der Naturgesetze.

Wundersamer als die Bibel?

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Und der Wunder und Unerklärlichkeiten gibt es viele, auch und gerade in unserer Zeit. Beispielsweise ist die Quantenphysik in ihren Spekulationen, wie kleinste Materiebausteine gleichzeitig Teilchen und Welle sein können, wundersamer als viele Bibelstellen. Das liegt vor allem daran, dass, bei allen sonstigen Unklarheiten, eines sicher ist: Sowohl der Wellenzustand als auch der Massenzustand von Quanten lässt sich zweifelsfrei nachweisen, allerdings nie gleichzeitig. Das bedeutet, dass der Zustand dieser Teilchen davon abhängig ist, wie sie gerade gemessen werden, also davon wie wir sie sehen. Aus diesen kleinsten Teilchen besteht aber die ganze Welt mit ihren scheinbar so sicheren physikalischen Gesetzen. Das hat gewaltige, auch metaphysische Folgen. Praktisch bedeutet es, dass unsere Welt, zumindest in ihren kleinsten Grundstrukturen, davon abhängig ist, wie wir sie jeweils wahrnehmen. Naturgesetze könnten also jederzeit durchbrochen werden, Wunder sind tatsächlich möglich und von der Sichtweise Einzelner oder Vieler abhängig. Eine Aussage, die allen ansonsten funktionierenden Formeln und Berechnungen widerspricht. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb seit Beginn des letzten Jahrhunderts die brillantesten Köpfe von Einstein bis Hawking sich an diesem Thema abarbeiten.

Jesus auf der Glasfassade

Die Welt ist also staunenswerter, und, wenn man das möchte, auch religiös interpretierbarer als je zuvor, aber steigert das unser Interesse an Wundern? Sicherlich, es gibt esoterisch angehauchte Webseiten, auf denen, weitgehend unkritisch, Wunder und Wundersames rund um den Globus gesammelt werden. Was Weltreligionen betrifft immerhin erfrischend undogmatisch. Muslime finden den Namen Allahs in Kartoffeln und auf Auberginen, amerikanischen Christen erscheint das Gesicht des Heilands auf einer Glasfassade in Florida. Was immerhin die quantenphysikalische Feststellung, dass alles von unserer Sichtweise abhängt, sehr schön bestätigt.

Auch die Kornkreise gibt es noch, und trotz gegenteiliger Behauptungen ist noch längst nicht entschieden, ob es sich wirklich in allen Fällen um Fälschungen handelt. Das behaupten zumindest die Kornkreisenthusiasten, die tatsächlich auch auf sogenannte ernstzunehmende Wissenschaftler und deren Ergebnisse in ihren Reihen verweisen können. Die Fälschungsenthusiasten tun das natürlich ebenso, haben aber im Heer der Realisten und Skeptiker mindestens genauso viele, fast schon religiös überzeugte Laien. Die Fälscher selbst, Bekannte wie Unbekannte, freuen sich diebisch über jeden neuen Beweis, dass sie etwas vollbringen können, was andere für unmöglich halten.

Genau darin liegt das Problem, das Wunder heutzutage haben. Was im Jahr 2010 an menschlichen Möglichkeiten, technisch wie in betrügerischer Absicht, bekannt ist, ist einfach zu viel. Zu viel, um ein Wunder noch als ein solches bestehen lassen zu können. Ob es sich nun um das sich verflüssigende Blut des heiligen Gennaro in Neapel handelt oder um Kornkreise: Immer werden sich Wissenschaftler mit einer möglichen Erklärung finden, Aufklärer und Entlarver, oft genug auch tatsächliche Betrüger und Fälscher. Deswegen erregen Wunder bestenfalls nur kurzfristige Aufmerksamkeit, wenn überhaupt. Die Sehnsucht nach der Überwindung irdischer Beschränkungen geht, rein äußerlich, in der immer größer werdenden Summe menschlicher und damit irdischer Machbarkeiten unter.

Irdische Wunderwelten

Was bleibt? Die ungestillte Sehnsucht und das, was sonst noch als Wunder bezeichnet wird. Meist handelt es sich dabei um Ereignisse, die zwar unwahrscheinlich, aber "real" sind. Der Verschüttete, der nach einer Woche lebendig ausgegraben wird, der Pilot, der seine Maschine heil herunterbringt, die politische Veränderung, an die man schon längst nicht mehr geglaubt hat. Ganz banal und persönlich kann es auch ein Wunder für den einzelnen Menschen sein. Der Fußballverein, dem man jahrelang treu beim Verlieren zugesehen hat und der dann plötzlich doch gewinnt zum Beispiel. Oder ein Mensch, der einem auf eine Art nahe kommt, wie man sie immer erhofft, aber nicht mehr für möglich gehalten hat. Der Schmerz und die Unzufriedenheit, von denen man nicht mehr erwartet hätte, dass sie eines Tages doch noch enden.

Dann ist das Wunder vor allem eines, das sich im eigenen Inneren abspielt. Etwas das immer so war, und als bedrückend empfunden wurde, muss nicht mehr bleiben, wie es ist. Das ewig scheinende "so ist es eben" ist eben doch nicht ewig. Das äußere Wunder, ob es nun ein mögliches, ein echtes oder ein vorgetäuschtes ist, kann auch eine Entsprechung für den menschlichen Wunsch nach einer inneren Veränderung sein.

Diese äußere Entsprechung könnte allerdings sowohl für unsere Umwelt wie für unser Innenleben von einer heute noch gar nicht erfassbaren Bedeutung sein. Wer sich einen Film wie Avatar in 3D angesehen hat, bekommt einen Eindruck von den zukünftigen irdischen Wundern und Wunderwelten. Es stellt sich die Frage, wie sehr die uns nachfolgenden Generationen überhaupt noch Interesse haben werden an einer äußeren Welt, die sowieso schon schwer geschädigt ist. Wenn Wunder in permanent zugänglichen künstlichen Paradiesen eines Tages normaler Alltag sein werden, wen kümmert dann noch, was draußen geschieht? Vor allem aber: Wie wirkt sich das auf mögliche Wunder in unserem Inneren aus? Denn, dass das allerkleinste mit dem allergrößten auf für uns bis heute nicht begreifbare Art zusammenhängt, hat nicht nur die Quantenphysik längst bewiesen.


Georg Klein lebt und arbeitet als freier Autor in Offenbach a.M.