Schirrmacher: Ich-Erschöpfung in der digitalen Datenflut

Schirrmacher: Ich-Erschöpfung in der digitalen Datenflut
SMS, Mails, Twitter, Facebook - für Menschen von heute normaler Alltag. Doch für Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der "FAZ", ein Problem. Der Zwang, ständig wichtige und unwichtige Informationen sortieren zu müssen, führe zur "Ich-Erschöpfung". In seinem neuen Buch geißelt er die digitale Datenflut - und ruft damit Kritik in der Netzgemeinde hervor.

Frank Schirrmacher hat ein Problem: "Mein Kopf kommt nicht mehr mit". Der Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) fühlt sich einer unsichtbaren Armada ausgesetzt. Wie Aliens haben sich SMS, Twitter und Facebook in den Alltag des Journalisten eingeschlichen, seine Gedankenwelt wird von Google ferngesteuert, Bücher kann er nicht mehr lesen, ohne dazwischen seine Mails checken zu müssen. In seinem neuen Buch "Payback" zeichnet Schirrmacher ein trübes Bild der digitalen Gegenwart - mit dem Befund dürfte er vielen Nutzern aus der Seele sprechen.

Das Buch (Untertitel: "Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen") steht mittlerweile auf den Bestsellerlisten. In der Internet-Gemeinde stoßen die Thesen zum Teil auf heftige Ablehnung. Inkompetenz und Resignation lauten einige Vorwürfe. Im Kern, schreibt Blogger Sascha Lobo bei "Spiegel online", gehe es um "Kulturpessimismus in antidigitalem Gewand".

Dabei will Schirrmacher auf keinen Fall als Digital-Muffel gelten. "Weder bin ich ein Amish des Internet-Zeitalters noch ein technologischer Einsiedler". Doch seit einiger Zeit sei er unkonzentriert, vergesslich, "mein Hirn gibt jeder Ablenkung nach".

Guter Riecher für den Zeitgeist

Die Bürger als "leidende Mehrheit" seien in der Netz-Gesellschaft einer gigantischen Datenflut ausgesetzt. Die "Fleisch-Maschine", wie Schirrmacher das Hirn nennt, hat sich in die langsamere Version eines Web-Browsers verwandelt.

Die Angst, Informationen nicht mitzubekommen und vom Stand der Dinge abgehängt zu werden, sei ein ständiger Begleiter. Unter den modernen Menschen herrsche das Gefühl der "permanenten würdelosen Herabstufung". Der Zwang, ständig wichtige und unwichtige Informationen sortieren zu müssen, führe zur "Ich-Erschöpfung".

Schirrmacher zeigt mit seiner Diagnose, dass er vor allem ein gutes Gespür für Zeitgeist-Strömungen besitzt. Wie in seinen Bestseller "Das Methusalem-Komplott" über den demografischen Wandel und in "Minimum" über die soziale Entwurzelung, bringt der "FAZ"-Mitherausgeber Ängste auf den Punkt. Wie etwa beim Thema "Multitasking", der Fähigkeit nicht nur von Computern, sondern auch von Menschen, mehrere Probleme gleichzeitig zu lösen. Dies sei schlicht "Körperverletzung". Multitasker seien zerstreut, reagierten auf falsche Signale und würden langsamer bei allen Aktivitäten, die keinen Aufgabenwechsel erlauben.

Abgesang der Medien-Elite

Die Menschen seien somit im Begriff, "ihre Leistungen, ihre Gefühle, ihre ganze Lebensbahn immer stärker wie Informationen abzurufen". Viele Erfahrungen würden nur noch dazu gemacht, um sie auf Bildern festzuhalten und danach in das Videoportal Youtube zu stellen. Die Suchmaschine Google bestimme mit ihren Algorithmen, was wichtig und was unwichtig sei, entscheide über die Existenz von Menschen, Dingen und Gedanken. Doch der Autor sieht Rettung - im Buch und in der Zeitung, in der "uneinnehmbaren Festung des gedruckten Papiers" und in der Rückgewinnung von Aufmerksamkeit.

Die Net-Gemeinde zeigte wenig Sympathien für Schirrmachers Thesen. So schreibt Matthias Schwenk im Medienblog Carta.info, der Journalist sehe die bildungsbürgerlichen Ideale des 20. Jahrhunderts in schwerer Bedrängnis. "Payback" sei der Aufschrei eines sichtlich empörten Zeitungsmachers, der angesichts der kostenlosen Wissen- und Informationsflut sein traditionelles Geschäftsmodell schwinden sieht.

Für Blogger Sascha Lobo sei der "FAZ"-Mann Vertreter einer bedrohten medialen Elite, die bis heute nicht verstehen könne, "was für ein ungeheurer gesellschaftlicher Fortschritt dem Netz innewohnt", wo es etwa egal sei, ob jemand über kanadische Gletscher oder französische Lyrik des 19. Jahrhundert kommunizieren möchte. Durch die Transparenz und Geschwindigkeit des Internets werde dieser Elite nun schmerzlich bewusst, dass sie die Illusion, ihre Welt zu beherrschen, nicht mehr aufrechterhalten könne.

Und Rudolf Maresch fasst in "Telepolis" zusammen, trotz der zitierten Zahlen, Statistiken und Studien, trotz des Aufrufs für Entschleunigung und mehr Bauchgefühl, komme "Payback" nicht über den Status eines schlichten Ratgebers hinaus.

dpa

Mehr Lesestoff? Gibt's bei uns im Dünne-Bücher-Blog!