"Er tat das, was jeder von uns hätte tun sollen"

"Er tat das, was jeder von uns hätte tun sollen"
Zwei Jugendliche schlagen und treten einen Erwachsenen zu Tode, weil er sie daran hinderte, Geld von vier anderen Jugendlichen zu erpressen. Es ging um 15 Euro. Es ist ein Fall, wie ihn sich kaum jemand hätte vorstellen können: Sinnlos und brutal, mit tragischem, tödlichen Ausgang. Der 50-jährige Dominik B. riskierte seine Gesundheit, um Schwächere zu schützen. Dass er seinen Einsatz mit dem Leben bezahlen würde, konnte niemand wissen.
15.09.2009
Hanno Terbuyken

Solln ist der südlichste Stadtteil Münchens, ein gutbürgerliches Viertel, eher wohlhabend, zum Wohnen im Grünen, so beschreibt es Pfarrer Dr. Christian Wendebourg. In seinem Apostelsprengel liegt der Bahnhof, an dem der Mord passierte. Die Gemeindemitglieder sind fassungslos. Wendebourg: "Das fragen die Leute: Wie konnte das passieren?" Woanders, sagt Wendebourg, hätten die Sollner so etwas eher erwartet, aber nicht bei ihnen. Der Mord hat die Idylle zerstört: "Das ist die Realität, mit der wir leben müssen, und das irritiert unsere Sollner."

[linkbox:nid=1680,1718,1685,1678;titel=Mehr zum Thema Solln]

Irritiert sind die Sollner auch deshalb, weil Dominik B. nichts falsch gemacht hat, im Gegenteil: "Besser hätte man es nicht machen können", sagte die bayrische Justizministerin Beate Merk (CSU) über die Zivilcourage des 50-Jährigen. Dominik B. hatte beobachtet, wie drei 17 und 18 Jahre alte Täter ihre Opfer bedroht und wohl auch geschlagen haben. Die vier angegriffenen Jugendlichen zwischen 13 und 15 flüchteten sich in die S-Bahn, mit der auch B. nach Solln fuhr. Zwei der Angreifer folgten ihnen in die S-Bahn. Dominik B. ging dazwischen, alarmierte aus dem Zug die Polizei und bot den vier Jugendlichen an, mit ihm gemeinsam in Solln auszusteigen.

Aus Rache totgeschlagen

Es half nichts. Als die Gruppe aus der S-Bahn stieg, griffen die beiden Täter an, aus Rache, wie der Staatsanwalt später feststellen sollte. Unter den Faustschlägen und Tritten der beiden jungen Männer brach Dominik B. zusammen. Sie traten noch zu, als er schon am Boden lag. Insgesamt 22 Verletzungen hatte der 50-Jährige, teilte der Münchner Staatsanwalt Laurent Lafleur am Montag mit. Die Polizei kam zu spät, um die Tat noch zu verhindern, es ging alles zu schnell: Keine fünf Minuten habe der Angriff gedauert, sagte Markus Kraus, Leiter der Münchner Mordkommission, in der "Süddeutschen Zeitung" (SZ). Ein Passant versuchte, Dominik B. wiederzubeleben, erfolglos. Auch der Notarzt konnte den 50-Jährigen nicht mehr retten. Die 17- und 18-jährigen Todesschläger wurden direkt festgenommen. Beide waren polizeibekannt, der Ältere von beiden hatte wegen räuberischer Erpressung schon vier Wochen Dauerarrest abgesessen.

Die Staatsanwaltschaft München hat Anklage wegen Mordes gegen die beiden Haupttäter erhoben. "Sie wollten sich an dem Mann rächen, weil er etwas getan hatte, was jeder von uns in dieser Situation hätte tun sollen", sagte Staatsanwalt Lafleur in der SZ. Auch er machte deutlich, dass Dominik B. ein Vorbild für Zivilcourage sei: "Das besonders Bestürzende an dem Fall ist, dass der Mann alles richtig gemacht hat." Dominik B. hilft das nicht weiter. Dennoch: Durch seinen selbstlosen Einsatz ist er zu einem Held geworden, zu einem Vorbild für andere, auch für die Menschen in Solln.

"Wenn man auf die Zettel am Ort schaut, steht da schon: 'Du bist unser Vorbild, wir lassen uns nicht einschüchtern'", berichtet Pfarrer Wendebourg. Nach außen hin zeigen die Sollner Mut und Solidarität. Sie trauern in der Öffentlichkeit, bringen Blumen und Kerzen an den Bahnsteig, wo Dominik B. starb. Sein Tod hat sie aufgerüttelt. Trotzdem befürchtet Pfarrer Wendebourg, das unterbewusst schon mehr Angst mitschwingt, sich in Zukunft einzumischen. Es eine Befürchtung, die andere teilen.

Die Menschen nicht allein lassen

Konrad Freiberg, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, zeigte "großen Respekt" für das Eingreifen B.’s und forderte zugleich, dass die Tragödie von Solln nicht dazu führen dürfe, dass noch weniger Menschen aus Angst um Leib und Leben im Notfall dazwischen gingen: "Wir dürfen jetzt aber nicht zurückschrecken, wenn wir Übergriffe auf Schwächere bemerken. Wir dürfen nicht wegsehen, wenn Gewalttäter zuschlagen. Tun wir dies, gefährden wir unsere eigene Sicherheit", so Freiberg: "Es erfüllt mich gleichermaßen mit tiefer Trauer und großer Wut, dass diese vorbildliche Form der Zivilcourage zu einem solch tragischen Ausgang geführt hat." Die Gewerkschaft der Polizei und die Deutsche Polizeigewerkschaft forderten übereinstimmend mehr Sicherheitspersonal in S- und U-Bahnen, damit die Menschen nicht allein gelassen würden.

Auch Politiker aller Parteien riefen dazu auf, trotz der tödlichen Attacke der Jugendlichen den Mut zur Zivilcourage nicht zu verlieren. "Wir müssen alles Menschenmögliche tun, dass Menschen, die Zivilcourage zeigen, stärker geschützt werden", sagte CSU-Chef Horst Seehofer. Darüber hinaus berichtete die Deutsche Presse-Agentur (dpa) von den üblichen Reaktionen: Verschärfungen des Jugendstrafrechts, mehr Videoüberwachung, verpflichtende Anwendung des Erwachsenenstrafrechts für Heranwachsende ab 18 Jahren. Die Forderungen kamen laut dpa von der in Bayern regierenden CSU, die bayrische Opposition kritisierte, die Vorschläge seien "keine Antwort". Wie man Zivilcourage allerdings wirklich stärken könnte, darüber war nichts zu lesen.

Die Menschen in Solln treibt noch ein anderes Thema um. "Immer mehr kommt auch die Frage: Was ist mit denen, die zur gleichen Zeit, am helllichten Tag, am S-Bahnhof waren?", berichtet Pfarrer Christian Wendebourg: "Auch da können wir nicht mit dem Finger auf andere zeigen, da müssen wir vor der eigenen Haustüre kehren."

Vorbild für Zivilcourage

Vielleicht gibt das gemeinsame Gedenken einen Anstoß, dass in Zukunft niemand mehr wegschaut. Für Mittwoch, 18.30 Uhr, laden Wendebourg und sein katholischer Kollege zu einer ökumenischen Trauerandacht ein, auf dem Parkplatz am S-Bahnhof, in Sichtweite des Tatorts. Die Pfarrer erwarten mehrere hundert Menschen. "Zur Trauerandacht werden nicht nur die Sollner kommen, sondern auch die Menschen aus der Stadt", sagt Wendebourg: "Das Gefühl ist schon da, dass diese Tragödie alle angeht."

Alle sind sich einig, dass irgendetwas passieren muss. Nur kann das kein Politiker erzwingen, kein Gesetz erbringen. Es wäre schon viel wert, wenn der Tod von Dominik B. nicht die Angst vor dem Eingreifen schürt, sondern klar macht: Wenn alle helfen, muss keiner das Risiko allein tragen. Dann wäre Dominik B. nicht umsonst gestorben. Was er tat, war ein leuchtendes Beispiel für Zivilcourage, Mut und bedingungslose Nächstenliebe. Das sollte uns allen ein Vorbild sein.

Gibt es nach Solln noch Hoffnung für Zivilcourage? Dazu gibt es in unserer Community einen Kreis, in den wir Sie einladen, gemeinsam über diese Frage nachzudenken und zu reden. Hier geht's zum Kreis Zivilcourage.

mit Material von dpa