Nur zwei blieben im Westen

Kirchentagsteilnehmer im Juni 1989 an der Berliner Mauer
Foto: epd-bild/Rolf Kiflling
Kirchentagsteilnehmer musizieren im Juni 1989 an der Berliner Mauer
Nur zwei blieben im Westen
1989 durften 374 Christen aus der DDR zum evangelischen Kirchentag nach Westberlin
Im Mai 1989 fragten zwei westdeutsche Journalisten Manfred Stolpe, wieviele Christen aus der DDR zum evangelischen Kirchentag nach West-Berlin reisen dürften. Die Frage löste eine Art Pendeldiplomatie zwischen Ost- und West-Politikern und einem Bischof aus. Letztlich kamen genau 374 Ostdeutsche zu dem Christentreffen. Nur zwei kehrten nicht zurück.
25.05.2014
epd
Karl-Heinz Baum

"Es war ein schwieriges Vorhaben im Mai vor 25 Jahren", sagt der damalige Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg (Ostregion), Manfred Stolpe, der anderthalb Jahre später Brandenburgs Ministerpräsident und 2002 Bundesminister wurde. Das Vorhaben, Christen aus der DDR zum evangelischen Kirchentag in West-Berlin zu schicken, gipfelte in einem Brief des damals bereits pensionierten Landesbischofs Albrecht Schönherr (1911-2008) an den Staatsratsvorsitzenden und SED-Generalsekretär Erich Honecker.

Stolpe lacht, wenn er daran denkt, wie es dazu kam. In der zweiten Maiwoche 1989 hatte er ein vertrauliches Gespräch mit zwei westdeutschen Journalisten. Die eine habe gefragt, wie viele Kirchenvertreter aus der DDR eigentlich zum Kirchentag im Juni nach West-Berlin fahren dürften. "Genau so viel wie zum Kirchentag in Frankfurt am Main vor zwei Jahren", habe er gesagt und wohl auch die Zahl 120 genannt. Da habe der andere eingeworfen: "Finden Sie nicht, dass es für West-Berlin mehr Leute sein müssten? Die DDR behaupte doch stets, West-Berlin liege auf ihrem Territorium!"

Walter Momper und Albrecht Schönherr als Diplomaten

Da sei Stolpe eingefallen, dass die DDR Tagesvisa für Ost-Berlin ausgibt, die nur Westdeutsche erhalten. "Könnte man nicht versuchen, Tagesvisa für Ostdeutsche zum Besuch von West-Berlin auszugeben?" Die beiden Journalisten fanden das eine gute Idee. Sie schwärmten gar, da könne man doch 3.000 oder 5.000 Christen für einen Tag "ins feindliche Ausland" schicken.

Ihm sei der Gedanke gekommen, erzählt Stolpe, das müsse jemand von der Kirche vorschlagen, der nicht mehr in Amt und Würden sei, den Honecker respektiere und schätze. "Dafür kommt nur der Altbischof in Frage!" sagte er den Journalisten und forderte sie auf, die Idee bei einem wichtigen Politiker im Westen "abzusichern". Vielleicht müsse der noch nachhelfen, wenn es hakt. Stolpe dachte an den Regierenden Bürgermeister Walter Momper. Die Journalisten unterrichteten den SPD-Politiker.

Stolpe überzeugte Landesbischof Albrecht Schönherr, Honecker zu schreiben. Von 1972 bis 1981 war jener Bischof der Ostregion Berlin-Brandenburg und stand 1969 bis 1981 dem Bund Evangelischer Kirchen in der DDR vor. Allerdings habe Schönherr, als Stolpe von 1.000 oder 2.000 Plätzen sprach, dies "eine abenteuerliche Vorstellung" genannt. Seine Bitte vom 16. Mai galt für 300 Leute. Honecker stimmte zu. Die prompte Antwort zeigte Stolpe, dass zu wenig gefordert worden sei. Er bat den Journalisten, bei Momper nachzufragen, ob er noch einen Weg wisse. Er wusste einen. Am 25. Mai, dem Fronleichnamstag, wollte sich der SPD-Vorsitzende Hans Jochen Vogel mit Honecker auf Schloss Hubertusstock am Werbellinsee treffen. Momper rief Vogel noch am Abend an.

Ein Meilenstein auf dem Wege zur Maueröffnung

Vogel konnte die Zahl der West-Berlin-Reisenden erhöhen. "Ich habe es auf 374 gebracht. Fragen Sie mich nicht, warum gerade 374. Ich weiß es nicht!" sagte er am Nachmittag jenes 25. Mai vor Journalisten in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, der offiziellen Mission der Bundesrepublik in der DDR. Die 374 Plätze wurden auf die damals acht Landeskirchen verteilt. Dabei sollten die Verwaltungen möglichst Menschen auswählen, die noch nie im Westen waren. Stolpe erinnert sich: "Wir wollten dem Staat die Angst nehmen, dass Leute nicht wiederkommen, sobald sie westwärts reisen dürfen. Das hat die Aktion bewiesen. Nach meiner Erinnerung kamen zwei nicht zurück. Das ist ein halbes Prozent! Aber 374 Christen aus der DDR haben sich am 10. Juni 1989 riesig über ihre erste Westreise gefreut."

Stolpe ist überzeugt, dass der Vorgang ein Meilenstein auf dem Wege zur Maueröffnung war. Es beeindruckte den SED-Führungszirkel, wenn nicht Honecker, so doch Kronprinz und Nachfolger Egon Krenz und Politbüromitglied Günter Schabowski. Krenz bat einen Tag nach Honeckers Ablösung die Kirche zum Gespräch und deutete an, unter seiner Führung könnten noch vor Weihnachten alle DDR-Bürger ungehindert und ohne Antrag reisen - Grund genug für Stolpe, ein Gespräch zwischen Schabowski und Momper zu organisieren. Der Regierende Bürgermeister sollte aus berufenem Mund rechtzeitig erfahren, was auf West-Berlin zukommt. Das Gespräch fand am 29. Oktober statt. Schabowski wiederholte die Worte von Krenz zehn Tage zuvor. Das genaue Datum blieb offen. Elf Tage später fiel die Mauer.