Kraft zum Neuanfang - der Mensch braucht Zeiten der Ruhe

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Kraft zum Neuanfang - der Mensch braucht Zeiten der Ruhe
Alle Religionen kennen für Phasen der Erneuerung seit Jahrtausenden "heilige Zeiten" - aus dem Alltag herausgehobene Zeitinseln, die allein dem Menschen, der Besinnung und der Ruhe dienen sollen. Doch "Muße scheint in unserer Gesellschaft ein Fremdwort geworden zu sein", warnt der US-amerikanische Verhaltensmediziner und Meditationslehrer Jon Kabat-Zinn: "Wir laufen heute Gefahr, den Kontakt zu uns selbst zu verlieren."
04.01.2014
epd
Stephan Cezanne

"Ein Mangel an Alleinzeit macht uns auf lange Sicht unzufrieden, unglücklich und krank", gibt Heiko Ernst, Chefredakteur der Zeitschrift "Psychologie Heute" zu bedenken: "Viele Zeitkrankheiten - allen voran Depressionen und Hyperaktivität - entstehen, weil wir permanent von den Wünschen und Zumutungen der Mitmenschen umzingelt sind. Aus Erschöpfung und Zeitmangel kommen wir nicht mehr dazu, uns mit uns selbst zu beschäftigen." Dabei sei "das Allein-sein-Können" die wesentliche Vorbedingung für alle schöpferisch tätigen Menschen, hebt Ernst hervor. Der Mensch brauche beides, "das Tun und das Träumen".

Stille, Kontemplation, Innenschau ist für viele Menschen allerdings gleichbedeutend mit Langeweile. Doch Langeweile habe einen Sinn, erklärt die Schweizer Psychologieprofessorin Verena Kast. Sie helfe dabei herauszufinden, "wie das Leben jetzt weitergehen soll". Die Langeweile begünstige kreative Fantasien und Träume. Aus diesem "Gefühl der Öde" heraus würden neue Lebensimpulse und Lebendigkeit erfahrbar, urteilt die Bestseller-Autorin ("Vom Interesse und dem Sinn der Langeweile").

Ikonen der Weisheit haben viel Zeit mit Nichtstun verbracht

Die westliche Gesellschaft habe den Bezug zum "Wert des nachdenklichen Betrachtens" weitgehend verloren, beklagt der britische Psychologieprofessor Guy Claxton ("Der Takt des Denkens - Über die Vorteile der Langsamkeit"). Zahlreiche Ikonen der Schöpferkraft und Weisheit hätten viel Zeit mit Nichtstun verbracht. Claxton: "Einstein, so sagt man, saß des öfteren in seinem Büro in Princeton und starrte ins Leere. Der Dalai Lama verbringt jeden Tag mehrere Stunden mit Meditation. Sogar über Sherlock Holmes, den Inbegriff von Scharfsinn und Einsicht, sagt sein Erfinder, dass er 'mit einem verträumten, leeren Ausdruck in den Augen' in Gedanken versänke."

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Zum vollen Menschsein gehöre, "dass wir von Zeit zu Zeit bewusst in die Einsamkeit gehen, um allein mit uns zu sein", urteilt der Benediktinerpater und Weisheitslehrer Anselm Grün. "Das sind kostbare Zeiten, in denen wir frei werden von allen Rollen, die wir sonst oft genug spielen", schreibt er in "Stille im Rhythmus des Lebens - Von der Kunst allein zu sein". Grün: "Wenn wir allein sind, kommen wir mit unserer Wahrheit in Berührung. Alles, was andere von uns denken und reden, ist nicht wichtig."

Um Abstand zum Alltag zu bekommen, brauchen wir Zurückgezogenheit und Stille, erklärt auch Frédéric Lenoir, einer der renommiertesten Philosophen und Soziologen Frankreichs: "Genau das aber macht uns häufig Angst. In der modernen Welt, in der wir ständig von zu viel Worten und Musik, Lärm und Geplärr umgeben sind, wirkt das Fehlen von Geräuschen fast schon bedrohlich." Lenoir ist überzeugt: "Echte Stille ist die, die man tief in sich selbst findet." Wie der Körper Ruhe brauche, müsse auch das "geistige Ich zur Ruhe kommen, Frieden finden, den Spannungen eine Zeit lang entkommen", urteilt der Bestseller-Autor ("Was ist ein geglücktes Leben?").

Stutz: "Wir können uns selbst unterbrechen"

"Die Kraft der Stille können wir auch mitten im Alltag erfahren", erklärt der spirituelle Autor Pierre Stutz. "Wir können uns selbst unterbrechen. Wir haben viel mehr Möglichkeiten, um der Seele Atempausen zu gönnen, als wir meinen", heißt es in einem Beitrag des Schweizer katholischen Theologen für das christliche Magazin "Publik Forum". Die Stille werde so zu "einer Lebensnotwendigkeit, um weiterhin mit größter Präsenz und Klarheit mitten im Leben stehen zu können".

Dag Hammarskjöld, Mystiker und zweiter Generalsekretär der Vereinten Nationen, ließ in den 1950er Jahren im UN-Hauptgebäude in New York einen "Raum der Stille" errichten. Die etwa 50 Quadratmeter große Kammer mit einem anthrazitgrauen Quader aus sieben Tonnen schwedischem Eisenerz soll Menschen zur Kontemplation und Sicht nach Innen einladen. Bewusst wurde dabei auf religiöse Symbole verzichtet. "Es ist Aufgabe jener, die diesen Raum betreten, die Leere zu füllen mit dem, was sie im Zentrum ihrer Stille finden", sagte der schwedische Diplomat zur Einweihung.

Zufriedenheit kann man immer nur im Jetzt finden, im gegenwärtigen Moment, glaubt der New Yorker Organisationsberater und Seminarleiter Martin Boroson ("One moment meditation - Stille in einer hektischen Welt"): "Es kostet keine Zeit - es braucht nur einen Moment", unterstreicht der Meditationslehrer. Boroson: "Ruhe und Frieden sind allgegenwärtig. Sie stehen dir ständig zur Verfügung, jetzt und nochmals jetzt, ganz gleich, wo du dich aufhältst."