Filmkritik der Woche: "Mutter & Sohn"

Foto: dpa/X-Verleih
Filmkritik der Woche: "Mutter & Sohn"
Die Mutter richtet’s: Der Goldene Berlinale-Bär ging in diesem Jahr an einen rumänischen Film. Calin Peter Netzer hat in "Mutter & Sohn" eine Familientragödie zu einer Bestandsaufnahme der rumänischen Gesellschaft ausgeweitet. Dem Zuschauer traut das Drama einiges zu – und macht damit alles richtig.
22.05.2013
epd
Gerhard Midding

Als dieser Film auf der Berlinale lief, wurde er in den verschiedenen Fernsehberichten vom Festival immer nur mit einem Ausschnitt vorgestellt. So etwas hat in der Regel rechtliche Gründe. Die Produzenten wählen eine Szene aus, welche einen groben Eindruck von dem Film vermittelt, aber nicht zu viel von ihm preisgibt. Bei "Mutter & Sohn" ist dies eine Aussprache zwischen den Titelfiguren. Sie steht fast am Ende des Films und ist ein Moment, auf den der Zuschauer gut einhundert Minuten lang sehnlich gewartet hat, der aber auch ohne Kenntnis des Vorangegangenen eine enorme emotionale Spannung entwickelt.

Barbu (Bogdan Dumitrache) weist seine Mutter Cornelia (Luminita Gheorghiu) in die Schranken. Der Sohn, der im Verlauf von Calin Peter Netzers Film nie zum Vorschein kommen konnte, steht endlich für sich selbst ein. Die ruhige Entschlossenheit, mit der er es tut, hat ihn ungeheure Kraft gekostet. Bis dahin ist er fast an der besitzergreifenden Mutterliebe erstickt. Er konnte sich ihrer nur mit hilflosem Trotz erwehren. Nun bringt er die Verwegenheit auf, der uneinfühlsamen Frau einen Rollentausch vorzuschlagen. Sie soll ihn fortan nicht mehr täglich anrufen, soll ihn nicht mehr mit Fürsorglichkeit erpressen. Vielmehr soll sie abwarten, bis er sich freiwillig meldet. Cornelia ist außerstande, das zu begreifen. Aber ihr Sohn hat den wichtigsten Schritt seines Lebens getan.

Seine eigentliche Bewährungsprobe steht Barbu freilich noch bevor. Er muss die Familie des 14-jährigen Jungen aufsuchen, den er bei einem Verkehrsunfall getötet hat. Auch dabei will die Mutter das Heft in der Hand behalten. Ob es Barbu gelingt, sich zu einem Beileidsbesuch durchzuringen, ist eine der spannendsten Fragen, die das Kino in diesem Jahr bereithält.

Obwohl Barbu der Auslöser der Tragödie ist, ist nicht er der Erzähler des Films, sondern Cornelia, die über beste Beziehungen verfügt und alles daransetzt, dass ihr Sohn nicht zur Rechenschaft gezogen wird. Das ist ein kühner Zug. Der Regisseur kann ihn sich zutrauen. In seinem ersten Langfilm "Maria" hat Netzer vorgeführt, wie ertragreich es ist, den Blickwinkel über die direkte Betroffenheit hinaus zu erweitern: Das Martyrium einer Mutter von sieben Kindern, deren Mann gewalttätig ist, lässt er zwischen Schelmenroman und Tragödie schillern. Auch in der trefflichen Satire "Ehrenmedaille" wechselt er agil den Erzählton, um ein Bild des nachrevolutionären Rumäniens zu entwerfen. In seinem Koautor Razvan Radulescu fand er für seinen neuen Film einen exzellenten Komplizen. In "4  Monate, 3 Wochen und 2 Tage" und "Dienstag nach Weihnachten" hat er demonstriert, welch große Seelenräume sich eröffnen können, wenn man eine Geschichte aus einer mittelbaren Perspektive erzählt.

Cornelias Liebe ist buchhalterisch

Netzer und Radulescu zeichnen Cornelia mit großer Einfühlsamkeit. Sie brechen nicht den Stab über sie. Schon "Ehrenmedaille" handelt davon, wie schwer es Eltern ihren Kindern machen können, sie zu lieben. Bei aller Monstrosität, mit der Cornelia die Behörden korrumpieren, Zeugen bestechen will und ihre eigene Familie entmündigt, bleibt sie eine Frau, die um Zuneigung buhlt. Die Insignien, mit denen die erfolgreiche Innenarchitektin ihren sozialen Status demonstriert – sie verfügt über ein ganzes Arsenal von Schmuckstücken und Pelzen –, sind vulgär und zugleich ein Schutzpanzer. Ihre Liebe ist buchhalterisch. Sie zerrt an ihrem Sohn und auch an ihr selbst. Es werden viele Medikamente genommen in dieser Familie. Luminita Gheorghiu ist eine großartige Verteidigerin ihrer Figur, aber Nachsicht hat sie nicht mit ihr. Mit beiläufiger, doch hingebungsvoller Detailgenauigkeit protokolliert der Film ihre Enttäuschungen. Man achte nur einmal auf den Orangensaft, den sie morgens frisch für Barbu presst, sodann in Zellophan verschließt und schließlich abends aus dem Kühlschrank holt, um ihn wegzuschütten.

Mit achtsamer Nervosität folgt Andrei Buticas Handkamera den Gesten der Akteure. Nichts entgeht ihr. Wenn sie etwas ausspart, wird es trotzdem spürbar. Die Konzentration auf Cornelia könnte man dem Film als leichtfertig auslegen. Sie ist es nicht. Netzer und Radulescu lassen den Zuschauer lange warten, bis er die Eltern des verunglückten Jungen zu Gesicht bekommt. Die Kamera hat selbst dann kaum einen Blick für sie. Cornelia spielt sich verzweifelt in den Vordergrund. Die wenigen Momente, in denen der Schmerz der Eltern des Opfers sich Bahn bricht, sind von bestürzender Diskretion. Der Film muss nicht mehr zeigen. Er vertraut darauf, dass seine Zuschauer in Gedanken die ganze Zeit bei ihnen war.

Rumänien 2013. Regie: Calin Peter Netzer. Buch: Razvan Radulescu, Calin Peter Netzer Mit: Luminita Gheorghiu, Bogdan Dumitrache, Ilinca Goia. Länge 112 Minuten. FSK: ab 12 Jahre.

"Mutter und Sohn" ist Film des Monats Mai der Jury der evangelischen Filmarbeit.