Graumann: "Die Authentizität von Zeitzeugen ist einzigartig"

Dieter Graumann, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland
Foto: epd-bild/Hanno Gutmann
Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dieter Graumann.
Graumann: "Die Authentizität von Zeitzeugen ist einzigartig"
Die Shoah wird nach Überzeugung von Dieter Graumann nicht in Vergessenheit geraten, wenn es keine jüdischen Zeitzeugen mehr gibt. Die Erinnerung könne wachgehalten werden, wenn die Kinder der Holocaust-Überlebenden die Geschichten ihrer Eltern weitergeben, sagte der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland dem Evangelischen Pressedienst (epd).
27.01.2013
epd
Jürgen Prause

Gerät die Shoah allmählich in Vergessenheit, wenn die letzten jüdischen Holocaust-Überlebenden nicht mehr am Leben sind?

Dieter Graumann: Nein, diese Sorge teile ich überhaupt nicht. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass wir Kinder von Shoah-Überlebenden in besonders hohem Maße die entsetzlichen Erlebnisse unserer Eltern in uns tragen. Ich war nicht im Holocaust, aber der Holocaust ist in mir. Gerade an uns, der zweiten Generation, wird es aber auch liegen, in Zukunft diese besonderen Gefühle weiterzugeben, indem wir davon erzählen. Auch unsere Kinder und alle weiteren Generationen werden diese schrecklichen Verbrechen bestimmt niemals vergessen.

Können die nach dem Holocaust geborenen Nachkommen der Überlebenden die Erinnerung lebendig halten?

Graumann: Eli Wiesel sagte einmal: "Wer einem Zeitzeugen zuhört, wird selbst zu einem." Ich glaube an diese besondere Wirkung. Deswegen meine ich, sollten wir alle, gerade auch Schulklassen und junge Menschen diese Gelegenheit nutzen, solange sie noch besteht. Eine derartige Authentizität ist einzigartig. Dennoch, ich denke, dass die zweite Generation die Erinnerung nicht nur lebendig halten, sondern auch weitergeben kann, so dass das Gedenken immer währt. Aber dazu bedarf es auch der Bereitschaft eines verantwortungsvollen Umgangs unserer ganzen Gesellschaft mit der Geschichte: vor allem zuhören zu wollen und daraus zu lernen, um es selbst besser zu machen. Diese Bereitschaft muss uns allen Verpflichtung sein.  

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Wie sollte rund 70 Jahre nach dem Holocaust ein zeitgemäßes Gedenken aussehen?

Graumann: Wir müssen vielfältige Formen des Gedenkens entwickeln. Ich habe nichts gegen feste Gedenktage und Erinnerungsorte. Mir ist ritualisiertes Gedenken lieber als planvolles Vergessen. Gerade bei Jugendlichen sollten wir aber zusätzlich versuchen, eine Identifikationsbasis zu schaffen, also neben den von vielen als abstrakt empfundenen Zahlen und Daten auch Einzelschicksale beleuchten. Junge Leute, die beispielsweise recherchieren, was in der Nazi-Zeit in ihrer Nachbarschaft geschah, entwickeln häufig ein großes Interesse an der Geschichte. Ich bin fest davon überzeugt, dass auch der Besuch eines Konzentrationslagers oder einer Gedenkstätte durch den authentischen Charakter ein besonderes Maß an Empathie schafft und zugleich gegen jeglichen Menschenhass immunisiert.