"Die Täufer haben die Reformation ernst genommen"

© Getty Images/iStockphoto/franz12
Im Schatten der Lambertikirche zu Münster errichteten die Täufer im 16. Jahrhundert ihr "neues Jerusalem".
"Die Täufer haben die Reformation ernst genommen"
Schwärmer, Ketzer, gefährliche Spinner - das Urteil der Zeitgenossen über die Täufer, allen voran die Reformatoren Luther und Zwingli, war eindeutig. Und noch heute steht es so in theologischen Lehrbüchern. - Der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann plädiert in seinem neusten Buch für eine Neubewertung. Im Interview spricht er über die Täufer als Vorreiter einer modernen und aufgeklärten Welt, als früheste Verfechter religiöser Toleranz und Gewissensfreiheit.

Ihre Vorgänger an der Universität Göttingen brachten den Theologie-Studenten noch bei, dass die Täuferbewegung eindeutig zu den Negativ-Posten in der evangelischen Kirchengeschichte zählt. Was lehren Sie heute?

Thomas Kaufmann: Das stimmt. Traditionell wird das Täufertum von den Vertretern der Konfessionskirchen immer als eine schlimme Verirrung wahrgenommen. Eine  Chaotentruppe, die Ordnungen in Frage stellt, alles auflösen will. Gefährliche Spinner, falsche Brüder, Spiritualisten, Schwärmer und Ketzer. Die Täufer, also die Wiedertäufer in Münster von 1534 bis 1536, galten als des Teufels. Wie eben auch schon zuvor 1525 Thomas Müntzer als Anführer der Bauernkriege. Aber ich will zeigen, dass das Täufertum ein Spross auf dem Baum der Reformation ist. Das Täufertum geht hervor aus Positionen, wie sie in Zürich von Zwingli, wie sie in Wittenberg von Luther und Karlstadt artikuliert wurden. Das Täufertum ist also Teil eines in sich pluralen Phänomens Reformation.

Aber an jedem Baum gibt es krumme Äste oder eben auch faulige Früchte.

Kaufmann: So sah man es jahrhundertelang, seit Luther und Zwingli. Aber seit Beginn der Aufklärung betrachtete man die Täufer in einem anderen, milderen, positiveren Licht. Der radikalpietistische Gottfried Arnold (1666-1714) etwa leitete eine wegweisende Neubewertung ein. Ihm folgten später Ernst Troeltsch oder Max Weber. Innerhalb der Großkirchen aber wurden die Täufer im Grunde immer negativ bewertet. Das haftet ihnen teilweise noch heute an.

Nur warum? Es ging doch erst mal nur um den Stellenwert der Taufe.

Kaufmann: Ja, aber daran machten sich viele andere Dinge fest. Luther hat an der Kindertaufe festgehalten, weil er der Bekenntnis- oder Entscheidungstaufe unterstellte, dass der Mensch dadurch etwas für sein Heil tun wolle. Er hat letztlich von seiner Rechtfertigungstheologie gegen die Entscheidungstaufe argumentiert. Zwingli dachte von seinem Verständnis der Taufe in Analogie zur Beschneidung her. Wie der Beschneidungsritus an Säuglingen vollzogen wird, so soll das auch bei der Taufe sein. Die Taufe ist das Zeichen des Neuen Bundes, und das Bundesvolk ist eben das gesamte Gemeinwesen. Die Täufer wollten sich aber nicht mehr von der Obrigkeit vorschreiben lassen, wann sie sich taufen lassen sollten. Insofern war das weit mehr als nur eine innertheologische Auseinandersetzung, sondern ein Akt der politischen Autonomie an der Glaubensbasis der Gemeinden.

"Die Leute lebten in dem Bewusstsein, dass das Ende der Zeit nahe ist"

Zumal es in der ganzen Bibel keinen Säuglingstaufbefehl gibt. Es ging nicht nur um die Taufe, sondern um die Gesamtheit eines guten evangelischen Lebens, oder?

Kaufmann: Ja, es ging um nichts weniger als die Errichtung und Verstetigung einer gottgefälligen Ordnung. Die Täufer haben die Reformation im Grunde ernster genommen als die Reformatoren selbst. Nehmen wir mal die Bilderfrage. Zwingli sagt: Die Bilder müssen raus, aber schön langsam und so, dass der Rat sie raus schafft. Luther sagt 1522: Ja, ja, ich bin den Bildern auch nicht hold. Aber wir müssen erst mal die Bilder aus den Herzen reißen. Also lassen wir sie in den Kirchen. Und da sagen die Radikalinskis eben: Ne, das geht nicht! Wenn das Bilderverbot gilt, dann haben wir es unmittelbar umzusetzen. Es ist ein Verstoß gegen Gottes gute Ordnung im Horizont apokalyptischer Naherwartung. Die Leute lebten in dem Bewusstsein, dass das Ende der Zeit nahe ist.

Die Täufer waren also radikal im besten Sinne, haben sie sich doch zu den Wurzeln des eigenen Glaubens konsequent bekannt. Ist es nicht genau das, was Luther immer wollte?

Kaufmann: Ich vergleiche Luther gerne mit Goethes Zauberlehrling. Er ruft Geister, die er nicht wieder loswird. Das ist die Grundsignatur der reformatorischen Bewegung. Da sind Leute inspiriert worden, entfacht worden, die ihren eigenen Kopf haben und in eine Richtung weiterdenken, die dem Alten in Wittenberg immer unbehaglicher wird. Die ersten Täufer sind hochgebildet, kompetent im Umgang mit den alten Sprachen. Sie sind vertraut mit dem Druckmedium und verbunden mit den verschiedenen kulturellen Zentren. Einer wie Ludwig Hätzer zum Beispiel: Der kommt aus Zürich und hat ein Bein in Basel. Der kennt wichtige Partner in Ulm, in Straßburg, in Worms. Die sind eng vernetzt - das erkennt Zwingli, das erkennt Luther. Die sind brandgefährlich, das sind keine Dumpfbacken.

Die Nachbildungen der Käfige an St. Lamberti in Münster. In ihnen wurden die Leichen der Führer des Täuferreichs zur Schau gestellt.

Thomas Müntzer und das Täuferreich in Münster kennt man ja in Deutschland. Aber Ludwig Hätzer?

Kaufmann: Nennen wir ihn mal beispielhaft, neben vielen anderen Gründergestalten der Täuferbewegung. Der katholische Geistliche Ludwig Hätzer schloss sich 1523 der Reformation Zwinglis in Zürich an. Den neuen Glauben ernst nehmend, verfasste er noch im gleichen Jahr eine Flugschrift gegen die Bilderverehrung. Das ging Zwingli zu weit. Hätzer musste Zürich verlassen und schloss sich anderen Täufervordenkern an. Konrad Grebel etwa. Felix Manz, der 1527 in der Limmat ertränkt wurde. Oder eben Hans Denck. Sie alle waren keine primitiven Revoluzzer oder Barrikadenkämpfer, die allein Lust an der Zerstörung der alten Ordnung hatten. Vielmehr wollten sie Gottes Wort ernst nehmen. Und dazu brauchten sie eine bessere Bibel-Übersetzung. Anders als Luther arbeiteten die Täufer dabei gezielt mit Juden und Rabbinern zusammen. Zumindest in Worms.

"Viele lebten ihren Glauben im Verborgenen, brachen mit allen Konventionen"

Die Täufer waren nicht judenfeindlich, zumindest nicht deutlich distanziert zu den Juden, wie die allermeisten Reformatoren und guten evangelischen Christen?

Kaufmann: Ich kann jetzt nicht für jeden einzelnen Täufer sprechen, zumal die Quellenlage Lücken aufweist. Klar ist aber auf jeden Fall, dass es unter den Bedingungen des 16. Jahrhunderts mit Sicherheit etwas ganz Besonderes war, dass man Rabbinern nicht nur ihre Handschriften abkaufte, sondern sie aufsuchte, den Kontakt suchte, um schwierige hebräische Texte zu verstehen. Das haben Hans Denck und Ludwig Hätzer, die sogenannten Wormser Propheten gemacht, um eine Prophetenübersetzung auf Deutsch herauszugeben. Zu einer Zeit, als Luther noch nicht so weit war und die Züricher Bibel eben auch nicht. Also die erste reformationszeitlich ins Deutsche übersetzte Prophetenausgabe war eben die der Wormser Propheten, die in enger Verbindung mit Rabbinern erstellt wurde.

Wurden die Täufer vielleicht auch deshalb systematisch verfolgt und ermordet. Auch weil sie sich viel zu freundlich gegenüber Juden benommen haben?

Kaufmann: Das ist vielleicht zu viel gedacht. Klar ist heute aber, dass von Königsberg im Osten, Austerlitz, Brixen, Bern im Süden bis nach Holland im äußersten Westen viele Täufergruppen entstanden, die fürchterlicher Verfolgung ausgesetzt waren: Hunderte wurden gefoltert und ermordet. Viele versteckten sich in Kommunen auf dem Land oder lebten ihren Glauben im Verborgenen. Manche brachen aber auch ganz radikal mit allen Konventionen und erprobten sich nackt unter Gottes blauem Himmel in der freien Liebe. 

###galerie|142566|Lutherland###

Die Täufer waren also die ersten Aussteiger und Hippies? Die ersten '68er schon im 16. Jahrhundert?

Kaufmann: Wenn man so will, ja. Die Täufer waren der Meinung, dass diese enge Verquickung von Kirche und Staat, die das Christentum durch ein Jahrtausend, das wir Mittelalter nennen, geprägt hat, eine sehr problematische Symbiose ist, die es nicht möglich macht, bestimmte herrschaftskritische Momente, die in der christlichen Tradition auch enthalten sind, zur Sprache zu bringen. So verweigerten die meisten Täufer den Soldatendienst. Bis heute ist das für viele prägend - für Quäker, Mennoniten oder die amerikanischen Amish etwa. Bei den Baptisten, der größten bis heute in den USA entstandenen Täuferströmung, ist Militärdienst aber kein absolutes No-go. Insofern ist die Täuferbewegung bis heute sehr heterogen, und jede der vielen kleinen Gruppen, die zum Teil längst wieder verschwunden sind, muss auch immer für sich betrachtet werden.

"Die bescheidene Existenzweise der Täufer ist eine Hilfe bei der Neuorientierung"

Die Hutterer gibt es noch, und die waren für die Aufhebung des Privateigentums. Hatte die DDR-Geschichtsschreibung also doch recht - Müntzer und die anderen Täufer waren die Frühboten und Vorfahren der Revolution?

Kaufmann: Kaum, bezogen sich die Täufer doch nicht auf Marx, Engels und Lenin, sondern immer und allein auf die Bibel. Dieses DDR-Konstrukt war immer schon höchst fraglich. Es gibt in den Traditionsbeständen des Christentums ein Motiv, das von besonderer Bedeutung für sozialethische Vorstellungen war: In Apostelgeschichte Kapitel 2 und Kapitel 4 ist von der Gütergemeinschaft der Ur-Gemeinde in Jerusalem die Rede. Und das ist immer wieder gegen eine reiche, der "Luxuria" frönende Kirche in Anschlag gebracht worden. Die Mönche in der mittelalterlichen Gesellschaft lebten dieses ideale Christentum. Und die Täufer sagen: Ne, ideales Christentum geht alle an.

Was hieß das konkret?

Kaufmann: Beim Eintritt in die „Kirche Gottes in Mähren“ wurden die persönlichen Besitztümer der täuferischen Gemeinschaft übergeben. Die Kinder wurden nicht von den Eltern, sondern kollektiv erzogen. Es war ein kleines Wunder: Wurden die Täufer in Deutschland, in der Schweiz oder den Niederlanden verfolgt, genossen die Hutterer in Mähren Freizügigkeit. Mähren wurde ein Täuferparadies. Die Herrschenden erkannten, dass die Täufer, die Hutterer, die mährischen Brüder, wie man sie auch nannte, fleißige Leute und gute Handwerker waren. Sie haben einen Beitrag zur Ansiedlung von Bevölkerung in strukturschwachen Gegenden geleistet. Dieser Makel des Aufrührerischen, der am Täufertum klebte, wurde eben durch die konkreten Erfahrungen mit den konkreten Leuten allmählich überwunden.

"Die Täufer können der Kirche heute bei der Neuorientierung helfen"

Der noch 1555 im Augsburger Religionsfrieden festgelegten Formel „Cuius regio, eius religio“ - also der Landesherr bestimmt die Religion seiner Untertanen - unterwarfen sich die Täufer also nie.

Kaufmann: Zumindest haben sie in den Dingen, die den Kern ihres Glaubens betrafen, widersprochen und sind dafür auch in den Tod gegangen. Das Täufertum stellt damit die erste auf Freiwilligkeit basierende Vergemeinschaftung des Evangelisch-Christlichen im 16. Jahrhundert dar. Im Unterschied zum anstaltlich organisierten großkirchlichen Christentum sind das Leute, die auf Grund ihrer Überzeugung Gemeinden bilden. Diese Form der Vergemeinschaftung hat sich als außerordentlich langlebig erwiesen. Wir haben auch heute in einem erheblichen Umfang täuferische Gemeinden, die sich zum Teil bis aufs 16. Jahrhundert zurückführen lassen.

Gedenktafel für die in der Limmat von der Stadtregierung Zürichs ertränkten Täufer: An dem Ort, wo Felix Manz als erstes Opfer der Täuferbewegung in Zürich ertränkt wurde, befindet sich eine Gedenktafel.

Heute werden aber Gott sei Dank keine Täufer mehr verfolgt. Es gibt einen freundlichen Austausch mit den Großkirchen. Haben die Täufer damit ihren historischen Auftrag erfüllt?

Kaufmann: Die Täufer sind bis heute ein unverzichtbarer Strang der Reformation. Sie sind immer noch die treuesten Verbündeten im Kampf gegen Nationalismus, Rassismus und Militarismus im evangelischen Raum. Und sie sind bis heute eine Mahnung, dass die wahre Kirche Jesu Christi ohne klerikalen Prunk und Reichtum auszukommen hat. Man kann in der Tat zeigen, dass die radikalen Außenseiter der reformatorischen Bewegung neben einzelnen Juden diejenigen gewesen sind, die am frühesten und nachdrücklichsten Toleranzforderungen formuliert haben. Diese Art des Denkens, dass Andersgläubige Schutz erfahren sollen, diese Elementarform von Toleranz, ist am frühesten von den Außenseitern der Reformation artikuliert worden.

Was sollte die Evangelische Kirche heute von den Täufern lernen?

Kaufmann: Die Täufer können gerade heute einen Beitrag für ihre ehemaligen Gegner, nämlich die Großkirchen leisten. Sie können zeigen, wie auf Freiwilligkeit basierende religiöse Vergemeinschaftung funktioniert. Wir müssen uns daran gewöhnen, insbesondere die Vertreter der Großkirchen, mit bescheideneren Organisationsgestalten klarzukommen. Wir sollten uns daran gewöhnen, auch eine kritische Distanz zur politischen Klasse zu entwickeln. Nach meiner Erfahrung ist unsere Kirche noch sehr mit postkonstantinischen Traumata behaftet: Der Schmerz, dass man nicht mehr die erste Geige spielt und nicht mehr die einzige Organisation ist, die für Sinn zuständig ist. Da finde ich die bescheidene, unauffällige Existenzweise der Täufer schon eine Hilfe zur Neuorientierung.