So prägen 100 Jahre Waldorfschule

Malklasse in einer Waldorfschule
©Nicolas Tavernier/REA/laif
Kinder der Waldorfschule belegen Fächer wie Malen, Stricken, Häkeln, Sticken bis hin zum Schneidern und Gartenbau.
So prägen 100 Jahre Waldorfschule
Am 7. September 1919 wurde von Rudolf Steiner die erste "Freie Waldorfschule" im Stuttgarter Stadtgartensaal feierlich eröffnet. 100 Jahre später wirkt die anthroposophische Bewegung weiter.

Hauptsponsor war der schwäbische Unternehmer Emil Molt mit seiner Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria. Daher bis heute die Namensgebung. Vorausgegangen waren drei methodisch-didaktische Vortragskurse des dann ersten Schulleiters Rudolf Steiner. Die Idee war von Anfang an die Verbindung der noch jungen Anthroposophie mit einer Reformpädagogik, die der so genannten "Akasha-Chronik" folgt, eine Art esoterisches Weltgedächtnis, das nur Rudolf Steiner den Menschen näher bringen konnte. Mit Erfolg: Heute gibt es mehr als 240 anthroposophische Privatschulen allein nur in Deutschland.

"Mein Eindruck ist, dass viele Leute nicht wissen, wie viel Rudolf Steiner in den Waldorfschulen steckt. In den 1990er Jahren war ich Vikar und viele Pfarrerskinder waren auch auf Waldorf-Schulen. Aber wir haben es nicht hinterfragt. Es besteht das Image Reformpädagogik ein Vorteil gegenüber dem staatlichen Schulsystem. Kinder werden umfassend gebildet, ein Bildungsideal, das attraktiv ist. Aber dass eine Weltanschauung den Schulalltag prägt, ist vielen Eltern nicht bewusst", sagt Kai Funkschmidt von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, kurz EZW, in Berlin.

Schule soll Weltwissen vermitteln

Dass es in Waldorf-Schulen kein eigenes Fach Anthroposophie gebe, liege schlicht daran, dass der gesamte Unterricht bereits danach ausgerichtet sei. Schließlich gebe es in englischsprachigen Schulen auch nicht noch Englisch als eigenes Unterrichtsfach, argumentiert der EZW-Referent. In dieser nur anthroposophisch ausgerichteten Schule gebe es problematische Bildungsinhalte.

Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie. Das Foto stammt aus dem Jahr 1916. In den Jahren 1912/13 gründete er im schweizerischen Dornach die Anthroposophische Gesellschaft. Das Anliegen von Steiners Anthroposophie ist, den Menschen über das "gewö†hnliche Bewusstsein" hinauszuführen zu "übersinnlicher Erkenntnis".

"Es ist die weltanschauliche Grundlage, die nicht wissenschaftskompatibel ist. Schule soll Weltwissen vermitteln. Wenn dieses Weltwissen so speziell ist, dass ich nicht mehr mit anderen Menschen kommunizieren kann, die auf anderen Schulen waren, bin ich nicht ausreichend zugerüstet. Diese Geisteswissenschaft ist ja eine Pseudo-Wissenschaft, das ist ja nicht intersubjektiv kommunikabel", kritisiert der evangelische Theologe Funkschmidt.

Und weiter: "Das Wissen über Wasser im Physik-Unterricht gilt überall, in Hamburg wie in Tibet. Wenn ich mir aber anschaue, wie die Anthroposophie die Geschichte betrachtet, die Erdgeschichte in sieben Planetenphasen. Die menschliche Kulturgeschichte ist ebenfalls in sieben Phasen unterteilt. Die  Existenz von Atlantis wird als eine historische Tatsache behandelt. Wenn Sie damit später ins Gespräch kommen, dann werden die Leute lachen."

Das Goetheanum in Dornach ist die nach Modellen Rudolf Steiners errichtete Freie Hochschule fŸür Geisteswissenschaften; erbaut 1924 nach dem Brand des VorgäŠngerbaus von 1913 (links).

Diese Kritik können die Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule in Berlin-Dahlem nachvollziehen. Sie selbst wurden als Waldorf-Schüler in den 70er und 80er Jahren noch so erzogen. Heute aber als Lehrende ist Atlantis für sie nur ein Mythos, eine Legende, und so bringen sie es auch ihren Schülern bei. Überhaupt lebe der Unterricht weniger nach einem strengen Lehrplan, schon gar nicht nach einem, den etwa Rudolf Steiner vor 100 Jahren vorgegeben habe. Vielmehr bestimmten die Klassenlehrer die Inhalte des Unterrichtes selbst. Etwa beim Fach Eurythmie.

"Wenn ich es anthroposophisch ausdrücke, geht es um eine Verbindung von Geist, Seele und Leib. Es sind eben nicht Bewegungen, die rein auf bestimmte physische Möglichkeiten wie schnelles Rennen abzielen, sondern ein Erlebnis an einer Dichtung, einer Musik durch Bewegung auszudrücken. Der Impuls kommt von innen. Es gibt Gebärden für die Laute der Sprachen, man kann da auch seinen Namen tanzen, aber noch viel mehr", sagt Reinhard Wedemeier, der Politische Weltkunde und eben auch Eurythmie in den Klassen eins bis 12 unterrichtet.

Eurythmieunterricht in Arles in Frankreich.

Ergänzend wird noch Sportunterricht erteilt. Dadurch gibt es mehr Bewegungsstunden als an anderen Schulen. Überernährte und konditionsschwache Schüler müssten also in Waldorf-Schulen seltener sein. Dann redet sich Wedemeier geradezu in Emphase: "Wir haben eine ganze Reihe von Fächern, die an anderen Schulen überhaupt nicht oder nicht mehr unterrichtet werden. Zum Beispiel Handarbeit, vielleicht das beliebteste Fach in der Unterstufe. Die Schüler lieben es, ihre eigene Selbstwirksamkeit erleben zu können, indem sie etwas Sinnvolles herstellen. Und es ist eines der größten pädagogischen Fehler gewesen, dass das an den meisten staatlichen Schulen abgeschafft wurde. Stricken, Häkeln, Sticken bis hin zum Schneidern. Gartenbau. Nicht nur theoretisch, sondern praktisch, man sät, erntet, pflegt. Jede 9te Klasse fährt zum großen Demeter-Hof Brodowin für ein Landwirtschafts-Praktikum. Dann haben wir Tischlern, Metallarbeiten, Schmieden, Kupfertreiben, Schnitzen, Malen, ein breites Spektrum. Es ist die alte Pestalozzische Geschichte Kopf, Herz und Hand."

Unterricht in Epochen

Aber Rudolf Steiner steht hinter allem, zumindest in der ersten Stunde, gibt der Waldorf-Lehrer zu: "Alle Waldorf-Schulen in der ersten Klasse beginnen damit, dass die Kinder zwei Dinge lernen, nämlich eine Gerade und eine Krumme zu zeichnen. Das ist einer der methodischen Hinweise von Rudolf Steiner in seinen Stuttgarter Vorträgen im September 1919."

Wichtig sei die Steinersche Idee des so genannten Epochen-Unterrichtes, ergänzt seine Kollegin Susanna Heim-Taubert. Jeden Morgen von acht bis zehn Uhr behandelt der Hauptunterricht mindestens drei Wochen lang intensiv ein Thema etwa aus den Fächern Geschichte, Chemie, Physik, Kunst oder Deutsch. "Es wird sehr viel mit Versuchen gearbeitet, dass man sie macht, beschreibt, wiederholt. So zum Beispiel gibt es drei bis vier Wochen nur die Beschäftigung mit Akustik oder Optik oder Mechanik. Da bleibt vielleicht mehr hängen", weiß Heim-Taubert.

Die Jüngeren lernen ohne Computer

Dass Steiner sich in seinen pädagogischen Vorträgen vor 100 Jahren sehr über einen gewissen Professor Einstein beschwerte, der mit seiner Relativitätstheorie den Geist und die Köpfe der Kinder verwirre, ist heute aber wohl nicht mehr maßgebend. Natürlich gibt es an den Waldorf-Schulen auch Informatikunterricht. Aber in Dahlem versucht man in den unteren Klassen ohne PC auszukommen. Und Smartphones sind auf dem Schulgelände generell verboten. Anders als vielleicht von außen wahrgenommen, ist eine Waldorf-Schule auch nicht anti-autoritär.

"Wir arbeiten mit der Autorität des Klassenlehrers von den Stufen eins bis sechs oder eins bis acht. Es ist eine enge Bindung. Wir wollen Leistung, geben nur keine Noten", sagt Waldorf-Pädagogin Heim-Taubert.

Märchen stehen im Vordergrund

Es gehe eben um die individuelle Förderung des Kindes, das Wecken und Entdecken der je eigenen Talente. Doch auch da gibt es evangelische Kritik von Kai Funkschmidt: "Die Pädagogik ist nicht so individuell ausgerichtet, wie sie behauptet. Bei Steiner sind ganz viele Dinge mit Zahlenmystik und Zahlensymbolik versehen. Es gibt überall Viergruppen, Dreiergruppen, Siebenergruppen. Die Entwicklung des Kindes findet in 7-Jahres-Schritten statt, vom ersten bis zum siebten, vom achten bis zum 14. Lebensjahr. Im Grunde wird alles schematisiert. Die Weltgeschichte, die persönliche Entwicklung, die Typen der Kinder. Es gibt vier Kindertypen. Wenn man mal in einer Klasse gewesen ist, weiß man, dass es wesentlich mehr Kindertypen gibt, wenn es denn überhaupt welche gibt. Hier wird schematisiert. Wenn es dann doch individuelle Zuwendung gibt, dann wegen engagierter Pädagogen, aber nicht auf Grund der Steinerschen Pädagogik."

Im Grunde gehen der Lehrplan und die Methodik immer noch auf Rudolf Steiner zurück: Der Unterricht in 7-Jahres-Schritten - bis zum Zahnwechsel ist die Welt noch gut und Märchen stehen im Vordergrund. Dann prägt sich der so genannte Ätherleib aus, um dann in den erwachsenen Astralleib überzugehen. So das Steinersche Vokabular. Auch die Rede von der arischen Wurzelrasse, der jüdischen oder griechischen Rasse, der noch nicht so weit entwickelten afrikanischen Rasse, wirken heute zumindest befremdlich. Statt Steiner zu hinterfragen, würden seine Werke wie heilige Offenbarungsschriften gelesen, kritisiert Funkschmidt.

Auseinandersetzung mit Rudolf Steiner

Doch das sei nicht wahr. Steiners Rasse-Begrifflichkeiten seien weder Unterrichtsstoff noch die übliche Unterrichtssprache, wehrt Waldorflehrer Reinhard Wedemeier ab: "Es gibt Hunderte Waldorf-Schulen weltweit, In Asien, Südamerika, in Afrika, in den Ländern des ehemaligen Ost-Blocks, in China boomt es gerade, in Japan und in Südafrika gibt es eine Eurythmie-Ausbildung. Ich wüsste nicht, wie man einer Bewegung Rassismus unterstellen könnte, die weltweit getragen wird."

Mitarbeiter der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners spielen mit traumatisierten Kinder im Flüchtlingslager Kakuma.

Und natürlich gebe es auch unter den Lehrenden eine kritische Auseinandersetzung mit Rudolf Steiner, seiner Person und seinen Schriften. "Man muss nicht glauben, dass in diesen 100 Jahren die Waldorf-Bewegung völlig außerhalb der sonst stattfindenden gesellschaftlichen Entwicklungen stand. Die Art wie Menschen unterrichten ändert sich ja ständig, weil sich die gesamte gesellschaftliche Atmosphäre verändert, zum Beispiel '68. Das bildet sich alles auch in der Waldorf-Schule ab. Wir leben nicht auf einer Insel mit Schutzmauern, als wäre es hier noch wie vor 100 Jahren", sagt Wedemeier.

So gibt es auch längst eine zumindest bildungspolitische Zusammenarbeit mit den evangelischen Privatschulen, betätigt Frank Olie, Vorstandsvorsitzender der evangelischen Schulstiftung in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, kurz EKBO. Gemeinsam kämpfe man in der AG der freien Schulträger Berlin und Brandenburg gegen die immer wieder drohende Kürzung der staatlichen Zuschüsse. Welche ist aber nun die bessere Schule?

"Die Entscheidung müssen die Eltern treffen. Bei uns gibt es Andachten, Gottesdienste, Religionsunterricht als Pflichtfach. Bei Waldorf ist es eben weltanschaulich geprägt", sagt Olie. Und weiter: "Wenn man die reine Lehre von Rudolf Steiner sieht und das wörtlich nimmt, dann ist es durchaus kritisch zu betrachten. Aber die Waldorf-Schulen sind sehr vielfältig. Manche sind sehr dogmatisch, und da wäre ich skeptisch. Andere stellen das Handwerkliche, die Naturerfahrung in den Vordergrund und das kann für Kinder sehr sinnvoll sein."