TV-Tipp: "Aufbruch ins Ungewisse"

Altmodischer Fernseher steht auf Tisch.
Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Aufbruch ins Ungewisse"
19.11., WDR, 22.10 Uhr
Der einfachste Weg zur Empathie ist es, sich in die Lage eines anderen zu versetzen. Deshalb schlüpfen zum Beispiel prominente Menschen immer mal wieder in die Rolle von Obdachlosen, um am eigenen Leib zu erleben und den Zuschauern zu vermitteln, wie sich so ein Dasein anfühlt..

"Aufbruch ins Ungewisse" funktioniert so ähnlich, nur als Drama. Der Film beschreibt eine Dystopie, also als Gegenstück zur optimistischen Utopie den wenig erstrebenswerten Entwurf einer nicht allzu fernen Zukunft: Aus vielen europäischen Staaten sind totalitäre Systeme geworden. Auch Deutschland hat eine offenbar faschistoide Regierung, die Andersdenkende verfolgt und einsperrt. Dieser radikale Entwurf beschränkt sich jedoch auf wenige Zeilen, die dem Film vorangestellt werden, sowie auf einen Prolog, der die wichtigsten handelnden Personen einführt: Familie Schneider muss fliehen, weil Vater Jan (Fabian Busch), ein Anwalt, der als Regimekritiker schon mal im Gefängnis war, erneut verhaftet werden soll. Hals über Kopf verlassen die Schneiders ohne nennenswertes Gepäck das Land. Ein Frachter soll sie nach Südafrika bringen, doch dann werden sie mit vielen anderen vor der Küste Namibias in einem Schlauchboot ausgesetzt, das prompt kentert. Im Flüchtlingslager sehen sich Jan, seine Frau Sarah (Maria Simon) und ihre Tochter Nora (Athena Strates) wieder; bloß vom siebenjährigen Nicklas fehlt jede Spur. Schlepper bringen sie bei Nacht und Nebel über die Grenze nach Südafrika, aber weil Sarah die namibischen Behörden um Hilfe bei der Suche nach Nicklas gebeten hat und bei dieser Gelegenheit auch registriert worden ist, kann die Familie in Südafrika kein Asyl beantragen; nun droht ihr die Abschiebung zurück nach Deutschland. Nur ein Wunder kann die Schneiders noch retten.

Das Drehbuch (Eva und Volker A. Zahn, Gabriela Zerhau) funktioniert im Grunde ganz einfach: Es erzählt die Geschichte einer Flüchtlingsfamilie, aber mit umgekehrten Vorzeichen. Tatsächlich erleben die Schneiders all das, was für Geflüchtete aus Syrien oder Afrika Alltag ist: die lebensgefährliche Reise ins vermeintliche Paradies, die skrupellosen Schlepper, die gleichgültigen Beamten, für die die Asylsuchenden bloß Fälle sind - und schließlich die Verzweiflung, als die Hoffnung auf einen Neuanfang zerplatzt. "Aufbruch ins Ungewisse" ist aber gleichzeitig auch Familiendrama, denn natürlich führen die Ereignisse zu diversen Konflikten: Jan und Sarah machen sich gegenseitig Vorwürfe, als Nicklas nicht mehr auftaucht, und die halbwüchsige Tochter Nora (gut gespielt von der jungen Südafrikanerin Athena Strates, ausgezeichnet gesprochen von Jasna Fritzi Bauer) wäre sowieso lieber in Deutschland geblieben und freundet sich im Camp mit einer zwielichtigen jugendlichen Clique an.

Der von Kai Wessel inszenierte Film hat nur ein Manko: Ihm fehlt die Fallhöhe, weil die Bedrohung für die Schneiders rein abstrakter Natur ist. Natürlich ist bekannt, wie Unrechtsstaaten mit ihren Kritikern umgehen; im deutschen Fernsehfilm ist das etwa anhand diverser Dramen über die DDR zur Genüge vorgeführt worden. Trotzdem bildet der sparsame Prolog eine Leerstelle, die der Film mit sich herumträgt, sodass sich nicht nur Nora fragt, ob die Flucht wirklich nötig war. Um wahre Größe zu entfalten, hätte die Handlung als Zweiteiler erzählt werden müssen: mit einem ersten Teil, der die Missstände in Deutschland schildert und die Repressalien vor Augen führt, unter denen der Anwalt zu leiden hat; und einem zweiten, der die Flucht beschreibt. Irgendwann erzählt Jan von einer Isolationshaft, die er auf keinen Fall noch mal erleben will, aber das sind nur Worte, zu denen der Film keine Bilder liefert. Eine ausführlichere Einführung hätte auch zur Folge gehabt, dass die Schneiders nicht bloß eine prototypische Familie bleiben, sondern Menschen, deren Schicksal nicht allein auf abstrakter Ebene berührt.

All’ das wäre selbstredend ein anderes Projekt geworden; und vor allem ein teureres. "Aufbruch ins Ungewisse" ist keine jener Prestigeproduktionen wie "Dresden", "Die Flucht" (ebenfalls von Kai Wessel) oder "Unsere Mütter, unsere Väter", an deren emotionale Wucht dieser Film nur selten heranreicht. Er spielt größtenteils im Flüchtlingslager, dessen Eintönigkeit natürlich das Schicksal aktueller Geflüchteter widerspiegeln soll. Die Ausstattung wirkt ähnlich authentisch wie die Anmutung der Schauspieler, denen die Fluchtstrapazen überdeutlich in die Gesichter geschminkt worden sind. Aber selbst die Hauptfiguren bekommen keine wirkliche Tiefe, und die Nebenrollen bleiben erst recht auf Schlagworte beschränkt: der Schwule, der Türke, die regimekritische Bloggerin. Die Bildgestaltung ist allerdings vorzüglich. Bei der bedrückendsten Szene hatten Wessel und sein Kameramann Nicolay Gutscher zudem Glück im Unglück, auch wenn ihnen das erst später klar wurde: Eigentlich wollten sie die Strandszene, als die Schneiders in Namibia an Land gespült werden, bei strahlendem Sonnenschein drehen, doch ausgerechnet am einzigen Drehtag zog dichter Nebel auf, der der Szenerie mit dem menschlichen Treibgut eine gespenstische Unwirklichkeit verleiht.