Die Stimme der Jesiden

Nadia Murad, spricht am 01.12.2016 in Stuttgart  im Landtag vor den Abgeordneten.
Foto: dpa/Franziska Kraufmann
Nadia Murad, sprach im Dezember 2016 in Stuttgart im Landtag vor den Abgeordneten. Die jesidische Menschenrechtsaktivistin hat Baden-Württemberg für die Aufnahme von IS-Opfern gedankt.
Die Stimme der Jesiden
Nadia Murad macht auf das Leiden im Irak aufmerksam
Mit brutalen Vergewaltigungen wollten die Kämpfer des IS Nadia Murad innerlich und äußerlich zerstören. Doch sie lässt sich nicht zum Schweigen bringen - und setzt sich dafür ein, dass Jesidinnen befreit werden und die Täter vor Gericht kommen. Für ihre Arbeit erhält Murad gemeinsam mit dem kongolesischen Gynäkologen und Frauenrechtler Denis Mukwege heute den Friedensnobelpreis.
10.12.2018
epd
Judith Kubitscheck

Die Jesidin Nadia Murad wuchs im Nordirak ärmlich, aber glücklich auf. Sie ging zur Schule und träumte davon, einen Friseursalon zu eröffnen. Bis die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im August 2014 ihr Dorf Kocho angriff und das behütete Leben der damals 21-Jährigen mit einem Schlag zerstörte: Hunderte Männer wurden hingerichtet - darunter auch sechs ihrer Brüder. Sie selbst wurde wie viele andere Mädchen und Frauen als "sabaya" - Sexsklavin - verkauft und gezwungen, zum Islam zu konvertieren.

"Die Islamisten wussten ganz genau, wie verheerend das für eine unverheiratete jesidische Frau war", schreibt Murad in ihrem Buch "Ich bin eure Stimme", das jetzt erschienen ist. "Unsere schlimmsten Ängste - dass unsere Gemeinschaft und unsere Geistliche uns deswegen nicht wieder aufnehmen würden - nutzten sie schamlos aus."

Der IS sah Murad und ihre Leute als Ungläubige an, weshalb die Jesiden noch schlechter als irakische Christen behandelt wurden, die als "Leute des Buches galten". Jesiden durften im Gegensatz zu Christen versklavt werden.

Irgendwann gibt es nur noch die Vergewaltigung und sonst nichts mehr

Was Murad in den Monaten als Sexsklavin durchmachte, gleicht der Hölle auf Erden: "Ich habe die dunkelsten Seiten der menschlichen Natur kennengelernt", sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd). Ihr erster Käufer war Hadschi Salman, ein IS-Richter aus Mossul, der sie zwang, sich vor jeder Vergewaltigung hübsch anzuziehen und zu schminken. Nach einem Fluchtversuch wurde sie ausgepeitscht und eine Nacht den Hauswächtern zur Rache überlassen.

Danach wurde sie weiterverkauft und an einem Checkpoint von so vielen Männern vergewaltigt, bis sie bewusstlos war. "Irgendwann gibt es nur noch die Vergewaltigung und sonst nichts mehr. Der eigene Körper gehört einem nicht mehr und man hat die Energie verloren zu reden, sich zu wehren, oder über die Welt da draußen nachzudenken", sagt Murad.

Andere Freundinnen und Verwandte mussten als Sexsklavinnen ähnlich Schlimmes erleben. "Diese Männer waren alle gleich, sie waren Terroristen, die es für ihr Recht hielten, uns wehzutun", sagt die junge, zierliche Frau. Bei ihrer zweiten Flucht gelang es ihr, durch die Hilfe einer sunnitischen Familie ins Kurdengebiet zu gelangen. Im dortigen Flüchtlingslager wurde sie für ein Sonderkontingent ausgewählt und kam gemeinsam mit mehr als Tausend, überwiegend jesidischen Frauen und Kindern nach Baden-Württemberg.

Schon wenige Monate später erzählte sie in der Schweiz bei den Vereinten Nationen in nüchternem, ernstem Ton, was sie durchlitten hat. Seither ist sie nicht mehr zu stoppen. "Jedes Mal, wenn ich meine Geschichte erzähle, habe ich das Gefühl, den Terroristen ein Stückchen ihrer Macht zu entreißen." Als Menschenrechtsaktivistin setzt sie sich mit der jesidischen Organisation "Yazda" für ihre Landsleute ein und berichtet von den Gräueltaten des IS. Mittlerweile ist sie eine der prominentesten Stimmen der Jesiden, wurde vom Europäischen Parlament mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet und ist die erste UN-Sonderbotschafterin für die "Würde der Überlebenden von Menschenhandel" der Vereinten Nationen.

Gemeinsam mit ihrer Anwältin Amal Clooney will Murad erreichen, dass IS-Terroristen sich für ihre Taten verantworten müssen und die Verbrechen an den Jesiden von allen Ländern als Völkermord anerkannt werden. Im September 2017 hat der UN-Sicherheitsrat eine Ermittlungsgruppe beschlossen, die Beweise für die Verbrechen des IS im Irak zusammentragen soll. Murad saß bei der Abstimmung im Publikum und lächelte glücklich. Denn dadurch könnten eines Tages IS-Mitglieder vor Gericht gestellt werden.

Doch es ist noch viel zu tun: Nach Murads Schätzung gelten noch immer rund 3.000 jesidische Frauen und Kinder vermisst, seit sie in den Hände des IS gefallen sind. Es müsse nun alles Menschenmögliche getan werden, um sie zu retten, fordert sie. "Mehr als alles sonst wünsche ich mir, das letzte Mädchen zu sein, das eine Geschichte wie meine zu erzählen hat." Mit diesem Satz endet ihr Buch.

Dieser Artikel erschien erstmals am 4. Dezember 2017 auf evangelisch.de