22.9.13 Münster: "Frieden hat immer eine Adresse"

Foto: Foto: MünsterView/Tronquet/Jean-Marie Tronquet
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22.9.13 Münster: "Frieden hat immer eine Adresse"
Predigt von Annette Kurschus über Galater 3, 26-28
Predigt aus dem ZDF-Fernsehgottesdienst am 22.09.2013 von Präses Annette Kurschus über Galater 3, 26-28.
22.09.2013
Annette Kurschus

Die Gnade Gottes, die Liebe Jesu Christi und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!

Liebe Gemeinde hier im Historischen Rathaus in Münster,
liebe Fernsehgemeinde an den unterschiedlichsten Orten,

Wahlsonntag ist heute. Wir Bürgerinnen und Bürger entscheiden, wer unser Land regiert in den nächsten vier Jahren. Seit langem wirft dieser Tag seine Schatten voraus. Auch jetzt, wenn wir Gottesdienst feiern, bleibt er nicht einfach außen vor. Heute Abend werden wir gespannt die ersten Hochrechnungen verfolgen. Wie soll es weitergehen in unserem Land, in Europa, auf der Erde? Wie kann Friede werden, wie Gerechtigkeit wachsen? Hier bei uns und anderswo?

Die Antworten fallen höchst unterschiedlich aus. Wenn es denn so ist, dass wir Christen vom Evangelium her einen eigenen, unverwechselbaren Ton in die großen Fragen der Gesellschaft einzutragen haben – und davon bin ich überzeugt: Woran können Menschen diesen Ton erkennen?

Der Friedenssaal im Rathaus von Münster, Foto: MünsterView/Heiner Witte

In diesem Gottesdienst trifft der Wahlsonntag auf eine historische Erfahrung und auf eine biblische Geschichte.
Eine hochinteressante Begegnung ist das. Die historische Erfahrung besagt: Hier in Münster wurden vor 365 Jahren die beiden Verträge unterzeichnet, die das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland markierten. Jahrelange intensive Verhandlungen in Osnabrück und in Münster waren dem vorausgegangen. Die biblische Geschichte erzählt: Jesus und seine Jünger machen Tausende von hungrigen Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen satt. Beides: Ein Wunder. Beides: Voller Verheißung für uns heute.

Verheißung ist ein altes Wort. Im Alltag benutzen wir es kaum. "Verheißung versteht heute niemand mehr", bekomme ich oft zu hören. "Versprechen" soll ich stattdessen sagen oder Ähnliches. Das aber will ich nicht. Denn dadurch ginge Entscheidendes verloren.

###info-2### Entscheidendes auch für die heutige Begegnung: Wahlsonntag trifft auf eine historische Erfahrung und auf eine biblische Geschichte. Eine im wahrsten Sinne des Wortes verheißungsvolle Begegnung ist das. Verheißung ist nicht nur mehr als ein Versprechen. Verheißung ist etwas grundsätzlich anderes. Überschuss liegt darin. Etwas, worüber wir nicht verfügen können. Etwas, das sich nicht planen lässt, nicht machen oder herstellen. Selbst dann nicht, wenn uns die frömmsten Vorsätze oder die sozialste Gesinnung leiten. Wo wir von Verheißung reden, kommt eine Kraft ins Spiel, die menschliche Erfahrung und menschliches Vermögen übersteigt.

Es ist die Kraft, von der wir alle leben. Es ist die Kraft, die den christlichen Glauben vom Humanismus und anderen Weltanschauungen unterscheidet. Gebt ihr ihnen zu essen! sagt Jesus in der biblischen Geschichte. Mit anderen Worten: Auf euch kommt es an! Nehmt ihr die Sache aktiv in die Hand!

Ja, es stimmt: Jesus nahm seine Jünger damals, Jesus nimmt uns, seine Nachfolgerinnen und Nachfolger heute, in die Verantwortung. Sehr handfest und sehr konkret. Es gibt jede Menge zu tun für Frieden und Gerechtigkeit. Resigniert abwarten gilt nicht. Und: Wo wir unsere eigene Verantwortung abkoppeln von der göttlichen Macht Jesu, da wird es falsch. Da enden wir in angestrengtem Aktionismus und Überforderung. Da geht die Verheißung über Bord.

Wahlsonntag trifft auf eine historische Erfahrung und auf eine biblische Geschichte. Eine verheißungsvolle Begegnung. Denn sowohl die Erfahrung von damals als auch die biblische Geschichte weisen über sich selbst hinaus. Zurückblicken heißt hier: Mut und Hoffnung gewinnen für den Blick nach vorn. Die Erfahrung des Westfälischen Friedens lehrt: Frieden ist möglich. Frieden geht wirklich. Trotz allem, was dagegen spricht.

Die biblische Geschichte weiß: Frieden ist nicht nur möglich. Frieden geht nicht nur wirklich. Viel mehr: Frieden ist Gottes erklärtes Ziel mit uns. Es kommt die Zeit, da werden alle an einem Tisch sitzen und aushalten, dass die anderen anders sind.

Es kommt die Zeit, da werden alle genug haben – und niemand kommt mehr zu kurz. Von diesem Ziel her gewinnen wir den Auftrag und die Kraft, heute schon das Unsere zu tun. Auch wenn´s schwierig ist. Und es ist manchmal sehr schwierig. Nicht nur in Syrien. Nicht nur in Ägypten. Nicht nur in Berlin-Hellersdorf.

###info-1### Schon vor der eigenen Haustür fängt es an, mühsam zu werden mit dem Frieden und mit dem Teilen für alle. Wir haben es eben gehört: "Wenn ich für mich sorge – und die anderen jeweils für sich, dann müsste es doch klappen. Wenn jeder an sich denkt, ist schließlich an alle gedacht." "Ich muss selbst sehen, dass ich über die Runden komme. Da sind ganz andere gefragt: Die Reichen. Die Mächtigen. So denken viele.

Und ich? Bin irgendwo dazwischen. Und die Verheißung? Scheint über Bord gegangen ... .

Mitten in unser Denken und Reden hinein meldet sich der Apostel Paulus:

Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. (Galater 3, 26-28, Lutherbibel 1984)

Alle einer? Die Fünftausend damals, die sich um Jesus und seine Jünger drängten. Alle einer? Die hasserfüllten Gegner, die einander bis aufs Blut bekämpften im Dreißigjährigen Krieg: Alle einer? Die Gesichter der konkurrierenden Kandidatinnen und Kandidaten zur heutigen Bundestagswahl, die uns seit Wochen von Plakatwänden und Litfaßsäulen entgegengrinsen: Alle einer? Das klingt nach Gleichmacherei – als gäbe es keine  Unterschiede.

Und wir wissen alle: Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Erfahrung lehrt: Krasser könnten manche Unterschiede kaum sein. Zum Beispiel zwischen arm und reich, zwischen gebildet und ungebildet, zwischen evangelisch und katholisch, zwischen christlich und muslimisch ... . Wir brüsten uns gern mit bunter Vielfalt und preisen die Unterschiede als kostbaren Reichtum. Das ist nicht falsch. Aber es beschreibt nur die halbe Wirklichkeit.

Genauso wirklich ist: Aus den Unterschieden entsteht der vergleichende Blick. In der Regel ist er scheel. Er sieht nicht einfach, was anders ist. Er bewertet und verurteilt. Und so gebiert er Angst, Neid und Missgunst. Schließlich sogar Hass, Streit, Gewalt und Krieg. Alle einer? Nein, so ist es nicht in unserer Welt.

Die Verheißung lautet: Ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. In Christus Jesus: Darauf liegt der Akzent. Es ist, als sei dieser Name ein Raum, in dem wir uns bergen können. Als sei dieser Name ein Kleid, das uns schützend umgibt. Allesamt einer in Christus Jesus: Der steckt uns nicht alle in dieselbe Uniform. Der macht aus uns keine graue Masse Gleichgesinnter. Der befiehlt uns nicht den Gleichschritt. Im Gegenteil: Er öffnet uns einen Raum, hält uns ein Kleid hin.

###mehr-artikel### Da wird nicht gefragt: Bist du konservativ oder liberal? Bist du Hartz-IV-Empfänger oder Spitzenverdienerin? Alle sind willkommen. Allesamt einer in Christus Jesus: Das sagt Paulus von denen, die getauft sind. Auf die Spur Christi gesetzt sind. Dazu berufen, andere mitzunehmen.

Es ist eine Spur, die Gottes Verheißung bei sich hat: Güte und Treue werden einander begegnen. Gerechtigkeit und Frieden werden sich küssen. (Psalm 85, 11) Darauf gehen wir zu. In Christus. Schon jetzt steht der Raum offen. Schon jetzt liegt das Gewand bereit. Für alle. Wir können uns frei darin bewegen. Mutige Schritte wagen. Unterschiede benennen. Konflikte austragen. Einander offen anblicken. Miteinander reden.

Wahlsonntag trifft auf eine historische Erfahrung und auf eine biblische Geschichte. Nehmen wir einmal an, es sei dies keine zufällige Begegnung heute. Zufällig allenfalls in dem Sinne, dass sie uns von Gott her zufällt, uns also eigens zugedacht ist. Was könnte die Frucht dieser Begegnung sein?

Mir scheint, sie liegt in der Verheißung: So seid ihr nun allesamt einer in Christus Jesus. Wie immer die Wahlen heute ausgehen – dieser bergende Raum steht offen. Der Überschuss an göttlicher Kraft bleibt in der Welt. Gottes Ziel mit uns ist Frieden. Gottes erklärter Wille für uns ist, dass alle genug haben und niemand zu kurz kommt. Der unverwechselbare Ton dieser Verheißung muss in die Welt. Auch durch uns.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.