Die Berliner Gedächtniskirche dient der "Liturgie der Stadt"

Die Berliner Gedächtniskirche dient der "Liturgie der Stadt"
EIne "normale" Kirche sieht anders aus. Manche Berliner nehmen die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und das, was Architekt Egon Einermann drumherum gebaut hat, kaum als Gotteshaus wahr, so speziell ist die Architektur von Egon Eiermann. Die Kirche wird in diesem Jahr 50 Jahre alt. Sie "gehört" Berlinern, Touristen - und natürlich den gewöhnlichen Gemeindegliedern.
16.12.2011
Von Benjamin Lassiwe

Es war der Tag des DFB-Pokalfinales. Der FC Schalke 04 besiegt den MSV Duisburg mit 5:0 im Berliner Olympiastadion. Und die Anhänger des Revierclubs feierten sich in Berlin durch die laue Mainacht: Autokorsos auf dem Kurfürstendamm, Partys auf dem Breitscheidplatz, und das Bier, das floss in Strömen.

Doch was oben reinfließt, kommt irgendwann auch unten wieder raus. Was auch Martin Germer erfahren musste. Der Pfarrer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche kam aus seinem Gotteshaus, als er einige Fans des FC Schalke an der Kirchenwand ertappte. "Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie da gerade gegen eine Kirche pinkeln?", fragte Germer, leicht empört. "Wieso?", kam als Antwort. "Die Kirche steht doch da drüben."

Die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche 1960 ...

Die Episode zeigt, wie Touristen die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wahrnehmen. Die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Turmruine mit ihrer monarchistischen Gedenkhalle ist in den Augen vieler Zeitgenossen immer noch "die Kirche".

Das von Egon Eiermann 1961 errichtete Ensemble aus Betongebäuden, die die Ruine in die Mitte nehmen, wird von außen dagegen oft nicht als Gotteshaus erkannt. "Das Gebäude ist reine Architektur – und passt überhaupt nicht in das Bild, das Menschen von einer Kirche haben", sagt Germer.

Der Christus berührt bis ins Innerste

Zumindest nicht, wenn es Tag ist. Doch am Abend oder in der Nacht tauchen die blauen Glasscheiben in den Betonwaben die ganze Kirche in ein sphärisches Licht – und wer sich dann in dem Betonbau befindet, wird vom Kontrast zur goldenen, über dem Altar hängenden, überlebensgroßen Figur des auferstandenen Christus, dessen segnende Hände sich schon von den Kreuzesnägeln gelöst haben, bis ins Innerste berührt.

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An diesem Sonntag nun feiert der Eiermann-Bau sein 50jähriges Bestehen. Sogar Bundespräsident Christian Wulff hat sich zum Festgottesdienst angesagt, den der Berliner Landesbischof Markus Dröge leiten wird. Denn während die Berliner beim Bau der Kirche noch äußerst lebhaft über den Erhalt der Turmruine und den Neubau ihres Gotteshauses gestritten haben, ist die neue Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche heute längst zu einem Wahrzeichen Berlins geworden. Und zu einem Gotteshaus für die "Liturgie der Stadt", wie es Martin Germer formuliert. "Wir bemühen uns, besondere Ereignisse im Leben Berlins geistlich zu begleiten."

... und im Jahr 2011. Fotos: dpa/Günter Bratke/Soeren Stache

Wenn die Internationale Grüne Woche in den Messehallen unter dem Funkturm stattfindet, feiern Landwirte in der Gedächtniskirche ihren Gottesdienst.

Aber auch an einem ganz normalen Werktag finden drei Mal am Tag Andachten in dem Gotteshaus am Kurfürstendamm statt. Dazu ist "KWG", wie die Berliner ihre Kirche in Anlehnung an das benachbarte Kaufhaus "KaDeWe" abkürzen, ständige Predigtkirche der Berliner Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein.

Gemeindeglieder, Touristen und "ganz normale Berliner"

Doch die Gedächtniskirche ist auch eine ganz normale Gemeindekirche, ausgestattet mit zwei Pfarrstellen - von denen freilich nur eine von der Landeskirche finanziert wird. Für die andere, die der Berliner Innenstadtgemeinde aufgrund ihrer Größe schlicht nicht zustehen würde, haben sich engagierte Gemeindeglieder vor einigen Jahren in einem Förderkreis zusammengefunden und sammeln Spenden. Das funktioniert genauso, wie der "ganz normalen Seniorenkreis" im Gemeindehaus der Kirche, sagt Martin Germer.

"Und ansonsten glauben wir, dass das, was wir hier machen, alle interessiert – unsere Gemeindeglieder wie die ganz normalen Berliner." Nur wenn Menschen das Bedürfnis hätten, in ihrer Kirchengemeinde schön kuschelig unter sich zu bleiben, wären sie in der Gedächtniskirche falsch, sagt Germer. Dass auch während des Gottesdienstes plötzlich Touristen aufstehen, und nach draußen gehen, weil sie beim Betreten der Kirche nicht mitbekommen haben, dass gleich ein Gottesdienst beginnt, sei in der Gedächtniskirche jedenfalls normal. Denn das Gotteshaus auf dem Breitscheidplatz gehört eben nicht nur den Berlinern.


Benjamin Lassiwe ist freier Journalist in Berlin.