Kirche muss helfen - wie der barmherzige Samariter

Kirche muss helfen - wie der barmherzige Samariter
Bedrohungen, Beleidigungen und Gewalt von Rechtsextremen ist besonders in ostdeutschen Bundesländern alltägliche Realität. Um die Opfer solcher Straftaten zu unterstützen, betreibt die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) seit April 2011 die Beratungsstelle "Ezra" (hebräisch für "Hilfe") in Thüringen. Jürgen Wollmann ist Projektleiter bei Ezra. Im Interview mit evangelisch.de berichtet er, welche Formen rechte Gewalt annimmt, wie die Opfer darunter leiden und was die evangelische Kirche tun kann, um den Betroffenen zu helfen.
18.11.2011
Die Fragen stellte Anne Kampf

Wer wendet sich an Ezra?

Jürgen Wollmann: Zu uns kommen Menschen, die Beratungsbedarf haben, also die Betroffenen rechter Gewalt. Das können auch Zeugen sein, die diese Taten beobachtet haben, oder Angehörige der Betroffenen. Wir sind so strukturiert, dass wir zu den Menschen hinfahren. Von Bürgerbündnissen, Beratungsstellen und Polizeidirektionen bekommen wir Hinweise: Hier gibt es einen Fall, bitte nehmt mal Kontakt auf.

Bitte nennen Sie Beispiele, was die Menschen Ihnen erzählen.

Wollmann: Das ist sehr unterschiedlich. Es geht los mit Beleidigungen und Bedrohungen bis hin zu Körperverletzung. Ich erlebe es sehr häufig, dass Menschen, die durch ihre Hautfarbe auffällig sind, die zum Beispiel aus Afrika kommen und schon lange in Deutschland leben, sich an uns wenden wegen eines konkreten Falles, und im Gespräch stellt sich heraus, dass sie schon eine ganz lange Geschichte mit Diskriminierung hinter sich haben. Manche sind resigniert, weil sie immer das Gefühl haben, es hilft ihnen keiner so richtig. Das sind manchmal so ganz kleine Dinge, die sich summieren.

Ein Beispiel: Bei einem Vorfall mit rassistischen Beleidigungen und Bedrohungen wird ein Fahrrad des Bedrohten mitgenommen. Die Polizei kommt nach einer Stunde und nimmt einfach nur "Fahrraddiebstahl" auf, und nicht die ganze Vorgeschichte, die eigentlich eine größere Straftat ist als dieser Diebstahl. So etwas hören wir immer wieder: dass diese Vorfälle nicht ernst genommen werden von der Polizei, und dass unsensibel mit den Opfern umgegangen wird.

Können Sie nachempfinden, wie ein Opfer rechter Gewalt sich nach so einem Angriff wohl fühlen mag?

Wollmann: Was ich in den Beratungsgesprächen höre, ist erstmal Schock über diese körperliche und die - eigentlich schwerere - seelische Verletzung. Ich hatte gerade ein Gespräch mit einem jungen Mann, der ist schwer zusammengeschlagen worden. Da ist ein Verlust an Vertrauen zu spüren, Grundvertrauen in die Menschen. Der geht durch eine Stadt und guckt immer: Wer kommt da? Oftmals ist es Hilflosigkeit, dass man nichts machen konnte. Ich erlebe oft den Versuch, nicht als Opfer gesehen zu werden, sondern seine Würde, sein Recht zu verteidigen. In diesem Fall war seine Freundin dabei, die hat er noch irgendwie ins Auto schieben können, bevor die Schlägerei richtig los ging, und sie war dadurch geschützt. Zeugen fragen sich oft: Was hätte ich tun können? War ich mutig genug? Sie haben Schuldgefühle und manchmal ein größeres Problem mit dem Überfall als die Opfer selber.

"Die Szene ist vielfältig. Mittlerweile kommen

die ersten Nazi-Rap-Scheiben raus

mit ihren fürchterlichen Texten"

 

Was empfehlen Sie den Opfern nach einem Überfall zu tun?

Wollmann: Wir gucken erstmal: Wie geht es dem Menschen, wie ist seine momentane Sicherheitssituation? Wo ist das passiert, muss er da öfters langgehen? Wer sind die Täter, sind die in der Nähe, kennen die ihn persönlich? Gibt es eine Möglichkeit, die Sicherheitssituation zu verbessern? Wir empfehlen eine Anzeige, dann müssen sie diese Tat als Zeuge bei der Polizei, bei der Staatsanwaltschaft, vor Gericht noch mal schildern. Sie müssen damit rechnen, dass die Täter wieder auftauchen - bei der Verhandlung spätestens - und denen gegenübersitzen. Und wir empfehlen dann auch, als Nebenkläger im Prozess dabei zu sein. Wenn ein Mensch traumatisiert ist, und wir merken, dass wir das mit unseren herkömmlichen Beratungsangeboten nicht lösen können, dann vermitteln wir weiter an Traumatherapeuten.

Kommen wir mal auf die Täter zu sprechen. Sind das besonders benachteiligte Jugendliche oder Menschen, die "aus der Mitte der Gesellschaft" kommen?

Wollmann: Sowohl als auch. Die Szene ist mittlerweile gar nicht mehr so eindimensional, wie man das in den neunziger Jahren immer gehört hat, der arbeitslose marginalisierte Jugendliche oder der junge Mann, frustriert, und aus Wut schlägt er zu. Oder: in der DDR sozialisiert, hat's nicht anders gelernt, ist halt autoritär erzogen worden. Das stimmt so nicht mehr. Die Szene ist bunt, vielfältig, auch kulturell. Ich habe zum Beispiel jahrelang in einem Gefängnis ein HipHop-Projekt betreut, und da waren nie Rechte dabei. Die waren immer bei der Rockmusik. Rap galt als Schwarze Musik aus der Bronx, das machen echte Deutsche nicht. Aber mittlerweile kommen die ersten Nazi-Rap-Scheiben raus mit ihren fürchterlichen Texten.

Natürlich sind es in der Regel fast immer junge Männer, junge Erwachsene, die gewalttätig werden, aber vom Bildungsstand nicht nur die mit mangelnder oder wenig Bildung. Ein Eindruck ist, dass es sehr von der Gruppe abhängt, in der die Jugendlichen sich aufhalten, und welche Normen die Gruppe verlangt zu erfüllen. Wenn da Gewalt dazugehört, dann ist es natürlich so, dass Jugendliche das tun, um diese Freundschaft zu erleben, um als echte Kameraden zu gelten.

"Es ist schlimm, finde ich, und traurig,

dass es erst einer Mordserie bedarf,

um das Thema mal wieder präsent zu haben"

 

Ist rechte Gewalt speziell ein Problem der "Provinz" beziehungsweise der ostdeutschen Bundesländer?

Wollmann: Nein, es ist ein bundesweites Problem. In der Statistik des letzten Jahres ist es so gewesen, dass von den 800 registrierten Gewalttaten (bei der Dunkelziffer geht man von einer Zahl aus, die doppelt so hoch ist) 40 Prozent in Ostdeutschland passiert sind, aber Ostdeutschland hat nur 20 Prozent der Einwohnerzahl der gesamten Bundesrepublik. Das heißt, es ist im Osten ein größeres Problem. Sachsen-Anhalt ist momentan ein Schwerpunkt, es ist auch das einzige Bundesland, in dem die Gewalt von rechter Seite angestiegen ist, in Thüringen ist sie dagegen in 2010 leicht rückläufig. Wir beobachten, dass es immer sehr mit einzelnen Personen zusammenhängt, die den Ton angeben oder auch die Gewalt angeben. Und wenn die aus dem Verkehr gezogen sind, dann fehlt diese Führerfigur, und dann werden die Gewalttaten weniger.

Wird das Problem rechter Gewalt von den Behörden ausreichend wahrgenommen?

Wollmann: Ich glaube nicht. Thüringen hat ja seit diesem Jahr ein Landesprogramm "Vielfalt, Toleranz und Weltoffenheit", darin wird als größte Herausforderung für die Demokratie der Rechtsextremismus beschrieben, nicht der Linksextremismus oder der islamistische Terrorismus. Das ist eine wichtige Erkenntnis, es war vorher gar nicht so einfach, dass das mal offiziell gesagt worden wäre.

Wie bewerten Sie es, dass jetzt - nach der Mordserie - in Deutschland so viel über Rechtsextremismus diskutiert wird?

Wollmann: Es ist schlimm, finde ich, und traurig, dass es erst einer Mordserie bedarf, um das Thema mal wieder präsent zu haben. Ich stelle so einen Gewöhnungseffekt fest: Diese Gewalttäter gibt es halt, es wird schon alles nicht ganz so schlimm sein. Und jetzt hat sich gezeigt, wie schlimm es werden kann, was Hass am Ende für Folgen haben kann. Es ist ja auch ein Schritt, einen Menschen zu töten. Aber das kann die Konsequenz sein, wenn man in dieser Ideologie verharrt, dass Menschen nicht gleich seien, nicht gleich viel Würde hätten. Das ist schon ein großes Problem, das oft unterschätzt wird.

Was können oder sollen Christen gegen rechte Gewalt tun?

Wollmann: Vor zwei Jahren hatten wir eine Kampagne in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, die hieß: "Nächstenliebe verlangt Klarheit - Evangelische Kirche gegen Rechtsextremismus". Wir müssen klar sehen, was menschenverachtende Äußerungen oder Taten sind. Und unsere Seite ist die der Opfer. Nicht Verständnis für die Täter, sondern Verständnis für die Menschen, die Hilfe brauchen. Da sehe ich ein urchristliches Anliegen, dass man den Menschen hilft - wie der barmherzige Samariter, der gar nicht fragt: "Gehört der meiner Religion an?", sondern: Der Mensch braucht Hilfe. Da muss Kirche stehen und da steht sie auch. Wir müssen außerdem was sagen gegen diese rassistischen, menschenverachtenden Ideologien. Wenn die Rechten behaupten, es gebe Menschen, die unterschiedlich viel wert seien, dann sagen wir: Nein, Gottes Liebe gilt jedem Menschen. Auch den Rechten übrigens.

"Grundsätzlich gilt das Evangelium jedem Menschen,

auch jedem Rechtsextremen"

 

Sollte die Kirche sich auch um Täter kümmern? Wenn ja: In welcher Weise?

Wollmann: Das ist eine sehr brisante Frage. Man sollte Gesprächsbereitschaft signalisieren, wenn die auf der Gegenseite auch akzeptiert und angenommen wird. Ich habe mal einen Jugendclub geleitet, dort hatten wir russlanddeutsche Jugendliche und auch vietnamesische Kinder. Andere Jugendlich fingen mit Hakenkreuzschmierereien oder blöden Bemerkungen an, und ich habe dann gegengesteuert und gemerkt: Da tut sich was. Zwei Jahre später traf mich ein junger Mann und sagte "Hallo, grüße dich, Wolle, ich bin nicht mehr rechts."

Wenn man mit den jungen Menschen redet, die einfach nur was nachplappern, noch nicht reflektieren, was sie da eigentlich sagen, dann, glaube ich, hat das Sinn und ist wichtig, dass wir offene Jugendarbeit machen. Oder Projekte anbieten, dass man mal nach Auschwitz fährt, damit sie sehen, wohin das führt, wenn man Menschen verachtet. Bei Älteren, Verfestigten halte ich das nicht mehr für sinnvoll. Dann ist es nur noch ein Austausch von Argumenten, aber mehr nicht.

Ist es Auftrag der Kirche, auch Rechtsextremen das Evangelium zu verkünden?

Wollmann: Ja natürlich. "Gehet hin in alle Welt ... ." Grundsätzlich gilt das Evangelium jedem Menschen, auch jedem Rechtsextremen. Aber wie erreicht man sie? Wie soll das gehen? Es gibt ja dieses Neuheidentum unter diesen Menschen, die Gewalt akzeptieren, das ist sehr verbreitet, und da ist Kirche ja schon fast ein Feindbild. Ich stelle mir das sehr schwer vor, Verkündigung an Rechtsextremen. Ich glaube, es kommt immer sehr auf die Situation an, wo man als Christ bewusst eingreift. Beschimpfungen helfen nicht, aber klare Abgrenzung und klare Argumentation. Das, denke ich, ist ganz wichtig.


Jürgen Wollmann ist Projektleiter bei Ezra, der mobilen Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen. Wollmann ist als Diakon bei der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) angestellt. Die EKM hat den Bund evangelischer Jugend in Mitteldeutschland (bejm) mit dem Projekt Ezra beauftragt.