Verdis Requiem szenisch: Vom Mehrwert in der Maschinenhalle

Verdis Requiem szenisch: Vom Mehrwert in der Maschinenhalle
In Köln gibt es Giuseppe Verdis "Messa da Requiem" in einer "szenischen Fassung". Das Experiment mit integrierten Protokollen von Erfahrungen des Todes erschließt dem grandiosen Werk neue Einsichten. Religion wird individuell erfahrbar. Wirklich schlüssig ist das Ganze jedoch nicht, gleichwohl lohnend.
14.11.2011
Von Ralf Siepmann

Japan, Region Tohuku, 12. März. Das unterirdische Grollen setzt ein, als die Frau gerade einen Tempel fotografiert. Sie empfindet das Beben wie jemand, "der direkt auf einem Motor sitzt". Die Touristin zieht es beunruhigt wie die Menschen weg von der Küste in den Ort. Sie durchquert Stadtviertel im Dunkeln. Der Strom ist ausgefallen. Sie hört aus Einsatzfahrzeugen Lautsprecherdurchsagen, die sie nicht versteht. Zuletzt sucht sie Geborgenheit im Inneren des Rathauses, wo provisorisch Teppiche und Decken ausgelegt sind. Sie spürt die Angst der Menschen.

Erst drei Tage später, zurück in Deutschland, versteht die Frau, wovon sie Zeugin geworden ist. Eine Medienwoge überrollt sie, die immer dieselben Begriffe ausspuckt: Erdbeben, Tsunami, Nuklearkatastrophe. In Clemens Bechtels Inszenierung von Verdis "Messa da Requiem" für die Kölner Oper ist die düstere Fukushima-Episode eine dramatische Unterfütterung des "Dies irae": "Tag des Zornes, Tag der Klage, der die Welt in Asche wandelt…"

Selbstzweifel in der Maschinenhalle

Vier solcher Protokolle von Menschen, die ihre Erfahrung mit dem Tod schildern, hat Bechtel in eine reguläre Aufführung jenes Werks integriert, das Verdi anlässlich des ersten Todestages des von ihm verehrten italienischen Dichters Alessandro Manzoni komponierte und 1874 uraufgeführt wurde. Ein türkischstämmiger Autor erfährt im Gefängnis in Istanbul vom Tod seines Vaters, dem die Reise galt. Eine junge Frau beschreibt ihren Existenzkampf mit der Bulimie, der ihr letztlich eine Lebensperspektive eröffnet hat. Die Mitarbeiterin einer kirchlichen Organisation der Entwicklungszusammenarbeit leidet nach Rückkehr aus Afrika unter der Vorstellung des drohenden Todes jener, die sich weiterhin für ihre Mission einsetzen.

Sie konfrontiert sich der Frage der eigenen Schuld. Der Selbstzweifel korrespondiert mit dem Text von "Ingemisco", das Verdi dem Tenor zugeschrieben hat: "Schuldig seufze ich und bange, Schuld errötet meine Wange; Herr, lass Flehen dich versöhnen!"

Was, fragt sich, ist an dieser Aufführung noch "regulär"? Die "Messa da Requiem" ist mit ihrem berückenden Spektrum von eruptiven Orchesterausbrüchen bis hin zu den zartesten Momenten des reflexiven vokalen oder sinfonischen Innehaltens schon ein Musikmonument eigener Gesetzlichkeit. Changiert sie eh zwischen den Genres Oper, Oratorium und Musica Sacra, entfaltet sie sich diesmal nicht im üblichen Konzertsaal, vielmehr im Palladium im Kölner Schanzenviertel. Die ehemalige Maschinenhalle im monumentalen Stil der Industriekultur um 1890 ist eines der Quartiere, in die die Kölner Oper in der Zeit der Sanierung ihrer Hauptspielstätte ausweicht.

Der Raum passt zum Projekt

Bechtels Projekt gewinnt mit der Monumentalität des Raumes jene zusätzliche Dimension, deren er zur Verwirklichung seiner Idee bedarf. Von der ersten Sekunde an erlebt das auf ansteigenden Tribünen sitzende Publikum Bewegung, Positionswechsel, choreographisch gesteuerte Abläufe. Am Anfang versammelt sich der Chor, aus verschiedenen Richtungen kommend, auf einem weiß gehaltenen Areal im Vordergrund. Dort sind allerlei Requisiten wie Bett und Schreibtisch samt Laptop ausgebreitet, gibt es zum "Agnus Dei" ein Pappmaschee-Lamm.

Die Choristen erscheinen in Alltagskleidung. Sie führen allerlei Symbolisches mit sich – Teddy und Blumentopf, Foto und Puppe. Sind sie gerade durch Gewalt ihrer Normalität entrissen worden? Im Rückraum, hinter dem Gürzenich Orchester Köln, ist eine drei Ebenen umfassende Galerie installiert, auf der die vier Solisten ihr erstes Solo-Quartett intonieren. Im Swing vom "Kyrie" zum "Dies irae" dann der Platztausch. Nun agieren Chor und Extra-Chor der Oper Köln machtvoll auf der Galerie. Das vordere Aktionsfeld ist den Solisten vorbehalten, hernach und zwischendurch den Protagonisten der Todesprotokolle.

Verdis Musik als "Reiseleiter"

Verdis Kunst erfährt durch Bechtels Inszenierung eine Erweiterung, durch den Einzug der Erzähler einen "Mehrwert", um es im Marketingdeutsch zu sagen. Er wünsche sich, hat hierzu der 47-jährige gesagt, "dass sich der Zuschauer emotional, aber auch gedanklich mit seinen eigenen Erfahrungen auseinandersetzt". So weit, so nachvollziehbar. So aber auch schlüssig? Bechtel hat nämlich sehr hoch gegriffen: "Die vier Erzähler unternehmen eine Reise in die Vergangenheit. Die Musik des Requiems ist sozusagen der Reiseleiter." An diesem Punkt indes geraten die Verhältnismäßigkeiten aus dem Lot. Weder sind die Originalkomposition und die "Bonustracks" in ihrer Aussagenqualität adäquat, noch ist das Ganze letztlich organisch.

Dafür sind die Texte, die Bechtle – pragmatisch - aus biographischen Erlebnissen des Personals der Kölner Oper akquiriert hat, zu unterschiedlich in Intensität und Qualität. Dafür pointieren sie – anders als der seit dem Tridentiner Konzil (1543-1563) konstante liturgische Text – zu sehr den Gott der Todesangst, den Gott, der Zweifel begründet und Erlösung zu versagen scheint. Im lateinischen Original hingegen mündet das Requiem mit "Lux aeterna" und "Libera me" in Verheißung und Erlösung.

Musiziert wird jedenfalls großartig. Das Orchester unter dem Gastdirigenten Fabrice Bollon, der gesanglich wie spielerisch beeindruckende Chor (Leitung: Kölns Opernchordirektor Andrew Ollivant) und das Solistenquartett, allen voran die Sopranistin Adina Aaron, geben der Aufführung den Rang eines Ereignisses. Unter dem Strich vermittelt die Produktion in ihrer musikalischen Qualität wie in der dramaturgischen Dimension eine erfreuliche Erkenntnis: Die 400 Jahre umfassende Institution der Oper ist immer wieder vitaler, jünger und innovativer als ihr (gelegentlicher) Ruf. Selbst dann wenn sie unter Handicaps agieren muss wie jetzt sanierungsbedingt die Kölner. Schon deshalb lohnt das Unterfangen den Besuch.

Aufführungen der "Messa da Requiem" in Köln sind noch am 16. und 19. November zu sehen.


Ralf Siepmann ist freier Journalist in Bonn.