Wie groß ist die Gefahr? Streit um rechte und linke Gewalt

Wie groß ist die Gefahr? Streit um rechte und linke Gewalt
Rechtsextreme Straftaten schockieren die deutsche Öffentlichkeit. Doch für kirchennahe Beobachter der Szene ist das, was jetzt über die "Zwickauer Zelle" aufgedeckt wird, keinesfalls überraschend. Die Sicherheitsbehörden nähmen rechte Gewalt nicht ernst genug, so der Vorwurf.
14.11.2011
Von Anne Kampf und Thomas Östreicher

Mindestens elf Tote in elf Jahren: Die sogenannte "Zwickauer Zelle" konnte quasi ungehindert morden. In einigen Fällen kam offenbar niemand auf die Idee, nach einem rechtsextremen Hintergrund zu forschen. An diesem Montag titelt der "Spiegel": "Die braune Armee Fraktion", im Text werden die Ausdrücke "Terrorzelle" und " Miniatur-Armee im Untergrund" verwendet. Das Magazin vergleicht die "Zwickauer Zelle" mit der "Rote Armee Fraktion" (RAF) der Siebziger- und Achtzigerjahre und deren Anschlägen in den Siebziger Jahren. Passt das? Sind rechte und linke Gewalt in Deutschland dasselbe?

"Ich halte den Vergleich für völlig unangebracht", sagt Christian Staffa, Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus und Geschäftsführer von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. "Rechte Gewalt speist sich immer aus einer Ideologie der Ungleichwertigkeit", sie richte sich zum Beispiel gegen Migranten oder Obdachlose, also gegen Menschen aufgrund äußerer Merkmale, die sich die Betroffenen nicht aussuchen könnten.

Gemeinsamkeiten von Links und Rechts?

Der Verfassungsschutz grenzt Rechts- und Linksextremismus deutlich voneinander ab. Unter Rechtsextremismus werden "Bestrebungen verstanden, die sich gegen die im Grundgesetz konkretisierte fundamentale Gleichheit der Menschen richten und die universelle Geltung der Menschenrechte ablehnen. Rechtsextremisten sind Gegner des demokratischen Verfassungsstaates. Sie haben ein autoritäres Staatsverständnis. Das rechtsextremistische Weltbild ist geprägt von einer Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit (Fremdenfeindlichkeit). Dabei herrscht die Auffassung vor, die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse bestimme den Wert eines Menschen. Individuelle Rechte und gesellschaftliche Interessenvertretungen treten zugunsten kollektivistischer 'volksgemeinschaftlicher' Konstrukte zurück (Antipluralismus)."

Linksextremisten dagegen "wollen anstelle der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung eine sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaft oder eine 'herrschaftsfreie' anarchistische Gesellschaft etablieren und orientieren ihr politisches Handeln an revolutionär-marxistischen oder anarchistischen Ideologien. Revolutionär-marxistische Organisationen setzen auf traditionelle Konzepte eines langfristig betriebenen Klassenkampfes. Autonomes Selbstverständnis ist geprägt von der Vorstellung eines freien, selbstbestimmten Lebens in 'herrschaftsfreien' Räumen. Entsprechend wird jede Form staatlicher oder gesellschaftlicher Normen abgelehnt."  Die einzige Übereinstimmung zwischen beiden Formen von Extremismus ist, dass sie sich gegen die Staatsform der Bundesrepublik Deutschland richten - gegen die Demokratie.

Die Zahlen

Die politisch motivierte Kriminalität mit linksextremistischem Hintergrund ging von rund 4.400 Taten im Jahr 2001 auf etwa 3.700 zurück - ein Minus von 15 Prozent. Anders die rechtsextremen Tätern zugeordneten Straftaten: Sie gingen zwar von 2009 zu 2010 um fast ein Viertel zurück, liegen aber immer noch um die Hälfte höher als vor zehn Jahren (siehe Grafik links; Quelle: Amadeu Antonio Stiftung, Zahlen: Bundesamt für Verfassungsschutz).

Die Statistik des Bundesinnenministeriums spricht für das 2001 von etwas mehr als 10.000 rechtsextremen Straftaten, 2010 waren es bereits mehr als 15.000. Und das, obwohl der Langfristtrend aller Straftaten rückläufig ist. So ging die Gesamtzahl der Straftaten (ohne Verkehrsdelikte) in Deutschland seit 1993 von 6,75 Millionen auf 5,9 Millionen um 12,1 Prozent zurück, die Zahl der aufgeklärten Straftaten stieg um elf Prozent von knapp drei Millionen auf 3,3 Millionen.

Seit jeher machen sogenannte Propagandadelikte wie das Tragen von Hakenkreuzen und die "Auschwitz-Lüge" etwa zwei Drittel der rechtsextremen Straftaten aus. Diese Delikte gibt es bei Linksextremen praktisch nicht; um diesen Faktor bereinigt halten sich laut Verfassungsschutz linke und rechte Gewalt ungefähr die Waage: Politisch motivierte Körperverletzungen etwa machen bei beiden Tätergruppen 14 Prozent der Fälle aus.

Vergleichbares Gewaltpotenzial ...

Die absoluten Zahlen des Verfassungsschutzes belegen sogar eher eine Verschiebung der Gewalttaten insgesamt von rechts nach links: Standen 2001 noch 740 linksextremistische 980 rechtsextremistischen Gewalttaten gegenüber, waren es 2010 schon 944 aus dem linken Spektrum im Vergleich zu 762 von Rechtsextremen.

Der Innenministerkonferenz zufolge gilt eine Straftat dann als politisch motiviert, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet."

[listbox:title=Mehr im Netz[Verfassungsschutzbericht 2010##Verfassungsschutzbericht 2001##Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus]]

Was im Allgemeinen so klar klingt, erweist sich im Detail als tückisch: So werden die Serienbrandstiftungen an Autos etwa in Berlin und Hamburg in der Darstellung eher dem linksextremen Täterspektrum zugeordnet, obwohl dafür nur selten Belege existieren wie Bekennerschreiben, Untergrundpamphlete oder ähnliches. Auf der anderen Seite gelten neonazistische Schläger trotz ihrer Gruppenzugehörigkeiten nicht selten als Einzeltäter. Beide Beispiele machen den Ermessensspielraum bei der Einstufung und Bewertung politischer Kriminalität deutlich.

... aber ein unterschiedlicher Umgang damit

Unscharf ist außerdem die Bezeichnung "terroristische Vereinigung". In Deutschland ist dieser Rechtsbegriff seit 1976 als Reaktion auf die Aktivitäten der RAF gebräuchlich. Eine terroristische Vereinigung ist laut gängiger Lexikon-Definition "eine auf eine längere Dauer angelegte Organisation mehrerer Personen, deren Ziel es ist, durch Handlungen, die unter rechtsstaatlichen Voraussetzungen als Straftaten bewertet werden, vor allem politische Ziele zu erreichen, die etwa von religiösen oder wirtschaftlichen Motiven begleitet sein können." Bilden nach dieser Beschreibung rechtsextreme Serienmörder, die es auf Ausländer abgesehen haben, schon eine terroristischen Vereinigung?

Ob Terroristen oder nicht - Christian Staffa von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus wirft den Behörden ein verstörendes Versagen angesichts alltäglicher rechter Gewalt und neonazistischer Terrorstrukturen vor. "Man vermutete immer nur vermeintliche migrantische Täter und keine rassistischen Mörder dahinter", sagt er mit Blick auf die mutmaßlichen Taten der "Zwickauer Zelle".

Bei den Ermittlungen habe ein bestimmtes Muster zugrunde gelegen, "nämlich im Umfeld der Betroffenen zu gucken, anstatt zu schauen, was das Merkmal der 'Herkunft' mit dem Motiv der Täter zu tun haben könnte. Laut den sehr konservativen Zahlen des Bundesamtes für Verfassungsschutz ereignen sich in Deutschland täglich zwei bis drei politisch rechts motivierte Gewalttaten. Die Gewöhnung an diesen Zustand muss ein Ende haben." 

"Nie so gefährlich wie heute"

Die Rechtsextremismus-Expertin Andrea Röpke, die mehrere Bücher zu dem Thema geschrieben hat, pflichtet Staffa bei: "Die rechtsextreme Szene war noch nie so gefährlich wie heute." Gesellschaft und Behörden hätten zu lange weggeschaut. Die jetzt entdeckte rechte Terrorzelle sei keine Überraschung, sagt Röpke. Die Expertin warnt allerdings davor, nun überall neue terroristische Zellen zu vermuten. Wichtig sei dagegen der Widerstand gegen die alltägliche rechte Gewalt. "Wo Zivilcourage und Solidarität geübt wird, haben die Rechten keine Chance. Dann ziehen sie sich zurück. Denn die Neonazis sind sehr viel weniger mutig, als sie vorgeben."

Christian Staffa fordert politische Konsequenzen: "Es ist jetzt an der Zeit, endlich mit der gebotenen Sorgfalt über die Gefahren aufzuklären und etwa bei Rassismus die Perspektive der Betroffenen ernst zu nehmen." Staatlichen Stellen und insbesondere den Sicherheitsbehörden wirft die BAG " verstörendes Versagen" beim Umgang mit rechter Gewalt vor. Die Kirche müsse "noch stärker ihr Augenmerk auf Rassismus in Kirche und Gesellschaft lenken", sagte Staffa. "Christen müssen auf der Seite derjenigen stehen, die im Fokus der Nazis stehen - wie schon die EKD-Synode in ihrer Erklärung am 9. November 2011 deutlich gemacht hat."

mit Material von epd

Anne Kampf ist Redakteurin, Thomas Östreicher freier Mitarbeiter von evangelisch.de.