Hungerwahn: Auch Männer erkranken an Essstörungen

Hungerwahn: Auch Männer erkranken an Essstörungen
Bernhard Wappis wird immer dünner. Jahrelang bleibt bei ihm die Magersucht unentdeckt. Dabei zählt Wappis nicht mehr zu einer Ausnahme. Doch Männern fällt es offenbar noch schwerer, sich Esstörungen einzugestehen.
13.10.2011
Von Charlotte Morgenthal

Bernhard Wappis ist 19 Jahre alt, als er bei der Bundeswehr unterernährt mit einem Kreislaufkollaps zusammenbricht. "Da habe ich gemerkt, wenn ich so weitermache wie bisher, verrecke ich." Es dauert Jahre bis der heute 35-jährige Gesundheitspsychologe sich eingesteht, dass er magersüchtig ist. Essstörungen bei Männern gelten auch heute noch als Tabuthema.

Magersucht und Bulimie (Ess-Brechsucht) sind längst keine reine Frauenerkrankungen mehr, erläutert die Ernährungswissenschaftlerin und Fachjournalistin Lioba Hofmann bei der Oldenburger Fachtagung "Rauschtrinken, Muskelsucht und Hungerwahn".

Sport bis zum Exzess

Rund 30 Prozent der Mädchen zwischen elf und 17 Jahren weisen Untersuchungen zufolge Symptome einer Essstörung auf, sagt Hofmann. Dies sei auch bei 15 Prozent der Jungen der Fall. Die Dunkelziffer von Essstörungen bei Männern schätzt sie sehr hoch, da sie oft nicht auffallen. "Bei Jungen stehen nicht Diäten im Vordergrund, sondern eher Sport bis zum Exzess in Verbindung mit Muskelaufbau-Präparaten."

[listbox:title=Mehr im Netz[Arbeitsgemeinschaft zur Förderung männlicher Spiritualität##Deutsche Gesellschaft für Essstörungen e.V.]]

Bei Wappis fängt die Krankheit schleichend an. Während eines Kellnerjobs in den Ferien nimmt der damals 16-Jährige einige Kilo ab. Er merkt, dass er so auf Mädchen attraktiver wirkt. "Ich dachte, wenn ich dünn bin, bekomme ich Anerkennung." Der Jugendliche fängt an, Sport zu treiben bis zur Erschöpfung. Seinen Tag beginnt er um sechs Uhr, er macht bis zu 1.000 Mal Bauchmuskelübungen und geht dann Laufen. Am Abend nach der Arbeit treibt es ihn auf den Hometrainer.

Die Kölner Journalistin Hofmann erläutert, dass ein Grund für die steigenden Erkrankungen bei Männern eine wandelnde Rollenverteilung in den letzten Jahrzehnten sei. Über einen muskulösen Körper meinten Jungen und Männer dann, sich abgrenzen zu können.

Zwanghafte Rituale der Sucht

Irgendwann achtet Wappis auch auf seine Ernährung. Täglich habe er sich gefragt wie viel Sport er treiben muss, um die zu sich genommenen Kalorien wieder zu verbrennen, erzählt er. "Essen war das alles bestimmende Thema." Wollen die Eltern gemeinsam mit ihm essen, lügt er ihnen vor, das habe er bereits in der Stadt getan. Irgendwann rutscht er auch in die Bulimie. Auf Fressanfälle folgt das erzwungene Erbrechen. Schließlich wiegt Wappis nur noch 46 Kilo bei einer Größe von 1,68 Metern.

Professorin Martina de Zwaan, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen, weiß, wie schnell die Erkrankungen lebensgefährlich werden können. Jeder zehnte stationäre Patient sterbe an den Folgen. "Magersucht ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate in jüngeren Jahren."

Als Wappis 23 Jahre alt ist, stellt ihn seine Freundin vor ein Ultimatum: Entweder er macht ein Therapie oder sie beendet die Beziehung. Wappis entscheidet sich für psychologische Hilfe. Die Gespräche erlösen ihn von den zwanghaften Ritualen der Sucht. "Ich musste wie ein kleines Kind lernen, wie viel ich essen kann und was normale Portionen sind."

"Viele haben Angst als Versager abgestempelt zu werden"

Expertin Hofmann weiß, dass die erkrankten Jungen und Männer nicht so oft Psychologen aufsuchen wie Frauen. "Die Scham, einen Arzt aufzusuchen ist bei Männern sehr hoch, ganz zu schweigen von den Ärzten die gar nicht für dieses Krankheitsbild sensibilisiert sind." Auch Wappis hatte in dem kleinen Dorf in dem er aufwuchs gegen Vorurteile zu kämpfen. "Wenn man als Mann mit einer vermeintlichen Frauenkrankheit rumläuft, sucht man sich nicht unbedingt Hilfe."

Mehr als zehn Jahre nach seinem ersten Therapiebesuch hat Wappis es geschafft. Er hat eine Selbsthilfegruppe für Männer ins Leben gerufen. Zudem schrieb er vor einigen Jahren ein Buch. Es beschreibt die Jahre seiner Krankheit und ist zugleich Ratgeber für Betroffene. Er will anderen signalisieren, dass sie nicht allein sind. Viele hätten jedoch Angst als Versager abgestempelt zu werden.

Wenn Wappis heute essen geht, genießt er jeden Bissen. Er kann sich wieder auf eine Pizza freuen. Doch vor dem Rückfall in die Sucht ist er sich auch heute nicht sicher: Im Gegensatz zu Alkoholikern, die ja kein Bier trinken müssten, bleibe die Ernährung immer präsent. "Essen müssen wir jeden Tag."

Literaturhinweis:

Bernhard Wappis, Darüber spricht man(n) nicht... !: Magersucht und Bulimie bei Männern, Books on Demand GmbH Norderstedt, 2005, 280 Seiten, 18,90 Euro

epd