Die Demenz und der Brief an meine Schwiegermutter

Die Demenz und der Brief an meine Schwiegermutter
"Wenn man selbst im Herzen betroffen ist": Ein Pfarrer aus der diakonischen Altenhilfe schreibt einen fiktiven Brief an seine demenzkranke Schwiegermutter. Ein bewegender Einstieg für ein Seminar zum Thema Demenz in Berlin.
29.09.2011
Von Katharina Weyandt und Hanfried Zimmermann

Der Tagungsraum mit dem blauen Teppich und blauen Stühlen füllt sich langsam. Das Seminar "Herausforderndes Verhalten bei Demenz – Antworten der pflegewissenschaftlichen Forschung" findet guten Zuspruch bei den Fachleuten, die den Bundeskongress des "Deutschen Evangelischen Verbands für Altenarbeit und Pflege e. V. (DEVAP) Ende September in Berlin besuchen. Gleich wird der Gerontologe Hermann Brandenburg Ergebnisse aus wissenschaftlichen Studien präsentieren, es geht um "herausforderndes Verhalten" demenzkranker Menschen. Darunter verstehen die Fachleute Unruhe, Aggressionen, nicht zu stoppendes Umherwandern, grundlose Ängste, Rückzug. Bei der 46 bis 72 Prozent der dementen Bewohner im Heim macht dieses Verhalten Probleme.

Zu Beginn an diesem Morgen tritt Pfarrer Hanfried Zimmermann (Foto: Katharina Weyandt) nach vorne. Er ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender der St. Elisabeth Diakonie, einem großen Altenhilfeträger in Berlin, und leitet das Seminar zusammen mit einer Kollegin. "Vorher wollen wir uns besinnen ein Bibelwort, mit dem ich in den letzten Tagen sehr persönliche Erfahrungen gemacht habe", sagt er: "Ich lese einen fiktiven Brief an meine Schwiegermutter vor. Sie ist 84, lebt mit ihrem 89jährigen Ehemann zusammen und ist … ziemlich schwer demenziell erkrankt. Das haben wir erst in den letzten Tagen richtig mitbekommen. Weil der Schwiegervater eine Mauer um sie herum gebaut hat." Er breitet zur Illustration seine Arme abwehrend aus. "Jetzt ist er im Krankenhaus. Wir hatten sie erst bei uns, und als das nicht ging, haben wir sie in der Pflege auf Zeit untergebracht". Die Aufmerksamkeit im Raum ist spürbar. Auf einmal sind nicht mehr die Profis unter sich, sondern einer ist in die Rolle des Betroffenen, des Angehörigen gewechselt. 

"Meine liebe Schwiegermutter,

da hast du ja unser Leben in den letzten Tagen ganz schön durcheinander gebracht. Und manchmal fühlten wir uns auch mächtig hilflos. Deine ständige Unruhe. Mindestens alle 5 Minuten die gleiche Frage. Von morgens bis nachts. Und immer wieder der Satz: Ich gehe jetzt nach Hause! Mal freundlich. Mal bittend, flehend: "Lasst mich nach Hause." Und dann auch wütend, schreiend, zornig. Dabei weißt du oft gar nicht mehr, wo dein Zuhause ist. Wenn wir vor deiner Haustür stehen, sagst du: Hier war ich noch nie. Oft weißt du auch nicht mehr, wer wir sind. Manchmal tut es dir und uns so gut, wenn wir dich in den Arm nehmen können, dich streicheln. Mit dir singen, mit dir reden, auch wenn dir die Wörter oft fehlen. Dann lächelst du uns zu.

Und dann wieder steigt anscheinend die Angst in dir hoch, du fühlst dich verfolgt, von uns bedrängt. Du schreist, schlägst um dich herum. Rufst auf der Straße Passanten zu, wir seien Verbrecher und sie sollten die Polizei holen. Ja, du lebst in einer anderen Welt, und wir schaffen es so wenig dort hinzugelangen. So gerne möchten wir dir Gutes tun und kennen so wenig die Wege dorthin. Deinen Mann, den suchst du Tag und Nacht, den vermisst du so sehr. Manchmal ist es auch dein Vater. Du willst zu ihm. Glaubst uns nicht, dass er im Krankenhaus liegt. Sagst, du hast gerade  mit ihm telefoniert und er hätte dir gesagt, er sei wieder zu Hause und er wartet auf dich. Oder wir lügen doch nur, er sei gar nicht krank.

Und dann bist du auch wieder die Lehrerin, die ganz dringend zu ihren Kindern muss. "Ich gehe jetzt", sagst du dann. Am letzten Sonnabendmorgen hast du es wahr gemacht. Bist losgegangen, früh nach dem Frühstück im Seniorenzentrum. Die Mitarbeitenden haben es zu spät bemerkt. Stundenlang haben wir dich vergeblich gesucht in den Straßen vom Prenzlauer Berg. Wir hatten solche Angst um dich. Und welche Last fiel von uns, als abends um 9 endlich der erlösende Anruf von der Polizei kam. Dankbar nahmen wir dich am nächsten Morgen in den Arm und wussten zugleich, das kann heute, morgen, übermorgen immer wieder passieren. Egal, ob hier in der Einrichtung oder bei uns zu Hause. Ob du dann  mmer so einen Schutzengel hast?

Unsicherheit, Angst, die Frage nach dem, wie es denn weitergehen soll, füllte dein kleines Zimmer. Und du liefst immer hin und her und meistens zur Tür und sagtest: "Ich gehe jetzt nach Hause." Da fiel mein Blick plötzlich auf einen Abreißkalender an der Wand. Und ich las das bekannte Wort Jesu aus dem Matthäusevangelium: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.

Das war schon komisch, denn eigentlich war das der Bibelvers für den 20. September, und Sonntag war erst der 18. Und ich dachte einen Augenblick: War das extra für mich so passiert? Oder, hast Du, Schwiegermutter, mir diesen Text hingehängt? Natürlich Quatsch und trotzdem, schon eigenartig, dass mir gerade in solcher Situation diese Botschaft entgegenkommt. Dann fiel mir ein, dass du jeden Morgen mit deinem Mann immer den gleichen Vers eines Liedes sprichst und ich sagte ihn laut in den Raum: All Morgen ist ganz frisch und neu des Herrn Gnad und große Treu. Sie hat kein End den langen Tag. Drauf jeder sich verlassen mag.

Es war mir so, es täte der Satz dir gut. Du kamst sogar zurück von der Tür, zu deinem Sessel und wir sagten und sangen diesen Vers gemeinsam immer wieder hinein in deine und auch meine Unruhe.
Ich wünschte mir dabei so sehr, dass du diese Gnade und Treue erfährst in deiner Welt, in der du zu Hause bist, auch durch uns. Und, dass auch ich sie erfahre und alle Menschen, die dir gut sein wollen, gerade dann, wenn wir so gar nicht in deine Welt gelangen können.

In Liebe Dein Schwiegersohn"

Pfarrer Zimmermann lässt noch die zitierte Liedstrophe "All Morgen ist ganz frisch und neu" singen, dann hat der Professor das Wort. Während Zimmermann zuhört, hat er auch das herausfordernde Verhalten der Schwiegermutter vor Augen, das er gerade geschildert hatte. In den nächsten Tagen werden er und seine Frau sich weiter sie kümmern, die Finanzierung der Pflege klären, erkunden, wie die Zukunft gestaltet werden kann. "Eigentlich weiß ich alles, Demenz, klar ... " sagt er hinterher im Gespräch: "Aber wenn man selbst im Herzen betroffen ist, erlebt man es ganz anders."


Pfarrer Hanfried Zimmermann ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Stephanus-Stiftung, einem großen Altenhilfeträger in Berlin.

Katharina Weyandt arbeitet als freie Journalistin für evangelisch.de und betreut den Kreis "Wenn die Eltern älter werden" in unserer Community.