Irrlehren: Wie "Ketzer"-Pfarrer aus der Kirche fliegen

Irrlehren: Wie "Ketzer"-Pfarrer aus der Kirche fliegen
Was müssen Pfarrer glauben? Dürfen sie predigen, dass es Gott nicht gibt? Offensichtlich nicht, das zeigt aktuell wieder der Fall des Hamburger Theologen Paul Schulz. In Anführungszeichen wird Schulz in den Medien als "Ketzer" bezeichnet - ein Begriff, der mittelalterlich anmutet. Ein "Ketzer" ist einer, der einer Irrlehre, einer Häresie anhängt. Doch das Wort Häresie (vom griechischen haíresis) bedeutet nicht mehr als "Wahl, Anschauung". Demnach ist ein Häretiker einfach nur einer, der eine andere Anschauung als die offizielle Lehre der Kirche vertritt.
06.09.2011
Von Anne Kampf

Gerade in den evangelischen Kirchen ist vieles zu glauben erlaubt. Die Anschauungen über Gott und dessen Beziehung zu den Menschen gehen weit auseinander, und das darf durchaus so sein. Wann ein Ketzer ein Ketzer ist oder anders ausgedrückt: Welche Lehre als Irrlehre gelten soll, ist deshalb nur schwer festzustellen. Der Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884-1976) hat dazu gesagt: "Es kann in der protestantischen Kirche keine Verwaltungsinstanz geben, die die Lehrnorm festsetzt und autoritativ über rechte Lehre und Irrlehre entscheidet." Doch es gibt sie, solche Verwaltungsinstanzen: die so genannten Spruchkammern, die im Einzelfall über die Lehre von Pfarrern urteilen.

Was also darf ein Pfarrer nicht lehren? Im Protestantismus gibt es keine Dogmen, also keine unumstößlichen Glaubenssätze wie in der katholischen Kirche. Für evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer gelten neben der Bibel die Bekenntnisschriften der lutherischen, reformierten oder unierten Kirche sowie die Grundordnungen ihrer jeweiligen Landeskirche. An den Inhalt dieser Schriften binden sich die Pfarrer mit ihrer Ordination. Weichen sie später von den Bekenntnissen extrem ab, kann es zu einem so genannten Lehrbeanstandungsverfahren kommen (auch Lehrzuchtverfahren genannt; davon zu unterscheiden sind Disziplinarverfahren).

"Ich gelobe vor Gott, das Evangelium rein zu lehren"

Laut Pfarrerdienstgesetz der EKD müssen Pfarrer vor der Ordination geloben: "Ich gelobe vor Gott, das Amt der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung im Gehorsam gegen den dreieinigen Gott in Treue zu führen, das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und im Bekenntnis meiner Kirche bezeugt ist, rein zu lehren, die Sakramente ihrer Einsetzung gemäß zu verwalten, meinen Dienst nach den Ordnungen meiner Kirche auszuüben, das Beichtgeheimnis und die seelsorgliche Schweigepflicht zu wahren und mich in meiner Amts- und Lebensführung so zu verhalten, dass die glaubwürdige Ausübung des Amtes nicht beeinträchtigt wird".

Altkirchliche Bekenntnisse, die noch heute in der gesamten westlichen Christenheit gelten, sind das Apostolische Glaubensbekenntnis, und das Glaubensbekenntnis von Nicäa-Konstantinopel von 381. Im 16. Jahrhundert entstand eine Vielzahl von weiteren Bekenntnisschriften in den neu entstandenen evangelischen Kirchen. Zu den wichtigsten zählt in den lutherischen Kirchen die Augsburger Konfession von 1530 sowie der kleine und der große Katechismus von Martin Luther. Die reformierten Kirchen beziehen sich unter anderem auf den Heidelberger Katechismus von 1563 und die zwei Helvetischen Bekenntnisse von 1536 und 1566. Reformierte Protestanten sehen allerdings in den Bekenntnisschriften keine allgemeine Verbindlichkeit, sondern betonen deren Vorläufigkeit. So ist es auch möglich, dass neue Bekenntnisse dazukommen, wie zum Beispiel die Barmer Theologische Erklärung von 1934 (deren Klassifizierung als "Bekenntnis" allerdings umstritten ist).

Widerspruch zum entscheidenden Inhalt der Heiligen Schrift

Kommt ein Pfarrer im Laufe seines Berufslebens zu dem Schluss, dass er doch nicht alles glauben kann, was in der Bibel oder den Bekenntnissen steht, gibt es zwei Möglichkeiten: Glauben vortäuschen und etwas gegen die eigene Überzeugung predigen - oder dem Gewissen folgen und offen etwas anderes bekennen und verkündigen. Dann kann es zu einem Lehrbeanstandungsverfahren kommen.

In einem solchen Verfahren darf der Pfarrer seine Überzeugung schriftlich darlegen und in einem so genannten Lehrgespräch begründen. Danach werden ihm entweder theologische Studien auferlegt, oder es wird ein Verfahren vor einer Spruchkammer eröffnet. Diese Spruchkammer unterzieht die Lehraussagen des Pfarrers einer theologischen Prüfung und kann dann feststellen, dass der Betreffende "in seiner Verkündigung und Lehre im Widerspruch zum entscheidenden Inhalt der Heiligen Schrift steht, wie er in den Bekenntnissen der Reformation bezeugt und in den Grundartikeln der Evangelischen Kirche … bekannt geworden ist." Die Konsequenz: Der Pfarrer verliert seine Ordinationsrechte, darf nicht mehr in der Kirche predigen, nicht mehr taufen, das Abendmahl austeilen oder die Amtskleidung tragen, und scheidet aus dem Dienst der Kirche aus. Das hat für die Betroffenen erhebliche finanzielle, wenn nicht sogar existenzielle Folgen.

Carl Jatho und sein Gottesgefühl

Ob die "Einheit der Lehre" überhaupt durch juristische Mittel herzustellen beziehungsweise beizubehalten sein kann, wurde unter Theologen schon 1911 heftig diskutiert. Anlass war der Kölner Pfarrer Carl Jatho (1851-1913), der sein eigenes Glaubensbekenntnis verfasst hatte. Mit den Bekenntnissen seiner Kirche hatte das in der Tat nicht viel zu tun. 1906 schrieb Jatho: "... ich habe überhaupt keinen Gottesbegriff, sondern nur ein Gottesgefühl, eine Gottessehnsucht, einen Gottesglauben."

Er könne keinen außerweltlichen Gott anerkennen, Gott sei für ihn Welt, und die Welt sei Gott. Damit vertrat Jatho die Lehre des Pantheismus, nach der Gott überall und in allem ist. Darüber hinaus lehnte Jatho die Gottheit Christi und die Erbsünden- und Erlösungslehre von Augustinus und Luther ab. Im Jahr 1911 wurden Carl Jatho auf Grundlage des preußischen Irrlehregesetzes die Ordinationsrechte entzogen. Das tat Jathos Beliebtheit jedoch keinen Abbruch: Nach seiner Amtsenthebung predigte er weiter in Konzert- und Theatersälen. Carl Jatho war für liberale Christen zur Symbolfigur geworden.

Richard Baumann und das Papsttum

Das erste Lehrbeanstandungsverfahren in der Geschichte in der Nachkriegszeit musste der Württemberger Pfarrer Richard Baumann (1899-1997) über sich ergehen lassen. Baumann war von dem Wunsch nach Einheit der Christenheit getrieben, er stand dem Katholizismus nahe. Durch sein Bibelstudium war Baumann zu der Erkenntnis gekommen, dass der Auftrag, den Jesus seinem Jünger Petrus gegeben hatte (Matthäus 16,18 f und Johannes 21, 15-17), das Papsttum begründe. Es handle sich dabei um eine Institution, die Jesus eingesetzt habe, und zwar auf Dauer. Baumann hielt das Papsttum sogar für heilsnotwendig.

Das widerspricht den Grundsätzen der reformatorischen Lehre, nach der sich die Kirche nur auf den Glauben, nur auf Christus und nur auf die Bibel begründen kann - aber nicht auf einen Menschen. Richard Baumann versuchte sich zu verteidigen und sein Amt als Pfarrer zu retten, wurde aber 1953 seiner Ordinationsrechte enthoben. 1982 trat Baumann zur katholischen Kirche über.

Paul Schulz und Klaas Hendrikse

Erst seit kurzem abgeschlossen ist der Fall der Hamburger Theologen Paul Schulz (geb. 1937), gegen den Ende der siebziger Jahre ein Lehrbeanstandungsverfahren geführt wurde. Es endete ebenfalls mit der Aberkennung der Ordinationsrechte. Schulz hatte "ein historisch-wissenschaftlich orientiertes Christentum" vertreten und den Glauben an einen persönlichen Gott, an die Auferstehung Jesu und an ein Leben nach dem Tod abgelehnt. "Einen persönlichen Gott, der mich hört", gebe es nicht, so sein Bekenntnis. (Foto: epd-bild/Evelin Frerk)

Im Jahr 2010 beantragte Schulz ein Wiederaufnahmeverfahren, nachdem er aus den Medien von dem niederländischen Pastor Klaas Hendrikse erfahren hatte. Hendrikses Buch trägt den Titel "Glauben an einen Gott, der nicht besteht – Manifest eines atheistischen Pfarrers". Obwohl er nicht an Gott glaubt, darf Hendrikse Pfarrer bleiben, das kircheninterne Verfahren gegen ihn wurde Anfang Februar 2010 beendet. Seine Aussagen tasteten nicht das Fundament kirchlicher Lehre an, hieß es von der holländischen Kirchenleitung.

"Das war der Anlass für mich, in Revision zu gehen", sagt der Hamburger Theologe Paul Schulz. Denn die Haltung der Protestantischen Kirche der Niederlande müsse seiner Ansicht nach auch die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands umstimmen. Heute werde in der Kirche alles Mögliche gepredigt, und viele Pastoren würden erheblich von der amtskirchlichen Meinung und den Bekenntnisschriften abweichen. Doch Schulz' Wiederaufnahmeantrag wurde nicht zugelassen.

Gerd Lüdemann und sein Abschied von Jesus

Jatho, Baumann und Schulz sind die einzigen Pfarrer, die nach Lehrbeanstandungsverfahren ihren Beruf verloren. Die Württembergische Pastorin Jutta Voß (geb. 1942) kam einem Spruchkammerbeschluss zuvor, indem sie 1993 freiwillig auf ihre Ordinationsrechte verzichtete und aus dem Dienst der Kirche ausschied. Die Sängerin, feministische Theologin und Psychotherapeutin hatte auf dem Gebiet der "weiblichen Mythologie" geforscht und in ihrem Buch "Das Schwarzmond-Tabu" Parallelen zwischen der weiblichen Menstruation und dem christlichen Abendmahl gezogen.

Ein Sonderfall ist der des Göttinger Theologen Gerd Lüdemann (geb. 1946), der sich aufgrund seiner historischen Forschung im Fach Neues Testament in den neunziger Jahren vom christlichen Glauben losgesagt hat. Lüdemann leugnet die Auferstehung Jesu und die Echtheit eines Großteils der Jesusworte im Neuen Testament. "Ich bin kein Christ. Ich habe mich von Jesus verabschiedet", sagte der Theologieprofessor in einem epd-Interview. Die Universität Göttingen verfügte Ende 1998 im Einvernehmen mit der evangelischen Kirche, dass Lüdemann statt seines früheren Faches "Neues Testament" das neu eingerichtete Fach "Geschichte und Literatur des frühen Christentums" vertreten muss und den theologischen Nachwuchs nicht mehr prüfen darf.

Eine Klage Lüdemanns gegen den Entzug seines Lehrstuhl wies das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2005 in letzter Instanz ab: "Ein Theologieprofessor an einer staatlichen Hochschule muss es hinnehmen, wenn das ihm ursprünglich zugewiesene Fach 'Neues Testament' entzogen und er aus der Theologenausbildung der evangelischen theologischen Fakultät ausgeschlossen wird, nachdem er sich öffentlich vom Christentum losgesagt hat." Um seines Berufes Willen ist Lüdemann trotzdem Mitglied der evangelischen Kirche geblieben. (Foto: epd-bild/Vanderbilt Univers/Steve Green)

Was ist mit Jürgen Fliege?

Aktuell läuft in der Evangelischen Kirche in Deutschland kein Lehrbeanstandungsverfahren gegen einen Pfarrer oder eine Pfarrerin, jedenfalls ist Oberkirchenrätin Sigrid Unkel, der Referentin für Dienstrecht im Kirchenamt der EKD, keines bekannt. Der rheinische Pfarrer Jürgen Fliege, der unter anderem zweifelhaftes Wunderwasser verkauft, muss allerdings damit rechnen, dass seine Kirchenleitung ihm weiterhin auf die Finger schaut. Nach Ansicht der Hamburger Sektenexpertin Ursula Caberta ist Fliege "ohne Hemmungen vom evangelischen Pastor zum Esoteriker mutiert". Auf eine detaillierte Anfrage von evangelisch.de antwortete die Pressestelle des Düsseldorfer Landeskirchenamtes nur, "dass die Evangelische Kirche im Rheinland Herrn Flieges Aktivitäten beobachtet und prüft." 

mit Material von epd