Marcel Gleffe: Die rettende Hand im Tyrifjord

Marcel Gleffe: Die rettende Hand im Tyrifjord
Mindestens 86 Teilnehmer eines sozialdemokratischen Jugendlagers wurden am Freitag auf der norwegischen Insel Utøya von einem Attentäter getötet. Die Anwohner am Tyrifjord glaubten zunächst an ein Feuerwerk, als sie die Schüsse auf der Insel hörten. Als Marcel Gleffe verzweifelte Menschen ins Wasser springen sieht, steigt er in sein Boot. Mehr als 20 hat er gerettet.

Eigentlich hatte sich Marcel Gleffe auf einen schönen Urlaub mit Eltern und Cousin am Tyrifjord gefreut. Doch dann brach das Grauen über die Idylle in Norwegen ein. Mit dem Bombenanschlag in Oslo fing es an. "Wir haben da am Tisch gesessen und total entsetzt darüber diskutiert", erzählte der 32-jährige Deutsche auf dem Campingplatz Utvika, direkt gegenüber der Insel Utøya. "Und auf einmal knallt es auf der Insel. Da haben wir gedacht, dass da ein Feuerwerk ist."

"Keine Sekunde mehr verlieren!"

Als dann aber Salven aus einer automatischen Schusswaffe zu hören waren, wurde Marcel klar, dass es etwas anderes sein musste. Er ging hinunter zu einem Platz direkt am See zwischen zwei gelben Holzhäusern. Da sah er schon, wie verzweifelte Menschen ins Wasser sprangen und um Hilfe riefen. "Da waren überall Köpfe ringsum zu sehen." In diesem Moment wurde Marcel zum Retter von Utøya. "Ich habe gar nicht mehr überlegt. Keine Sekunde mehr verlieren!"

Der bärtige Mann lief sofort zu dem kleinen Bootsanleger des Campingplatzes, sprang in sein rotes Boot "Pioneer" und startete den 10-PS-Motor. "Den ersten Leuten habe ich die Schwimmwesten zugeworfen." Aber die fliehenden Teilnehmer des Sommercamps der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF trauten dem Retter zunächst nicht. "Die haben keinem Menschen getraut, nur dem Nachbarn, der im Wasser war." Aber Marcel, der im Jahr 2008 aus Teterow bei Rostock nach Norwegen zog und in der Nähe von Oslo wohnt, erklärte ihnen auf Norwegisch, dass er da sei, um ihnen zu helfen.

"Es war traumhaft zu sehen, wie die sich gegenseitig unterstützt haben und dann gesagt haben: 'Nimm nicht mich, nimm sie oder nimm ihn. Sie oder er kann nicht mehr, ich kann noch'." Marcel brachte die erste Gruppe an Land, wo seine Familie schon am Anleger wartete, um die Überlebenden des Massakers zu betreuen. Sie führten sie zum Wohnwagen und gaben ihnen trockene Kleidung. "Ohne viel zu reden, hat das alles automatisch funktioniert", erzählt Gleffe. Er fuhr gleich wieder auf den See, nahm sechs bis acht Menschen auf - gerade so viele, wie das Boot verkraften konnte, ohne zu sinken.

Täter schießt auf fliehende Schwimmer

Die erste Fahrt sei noch ruhig gewesen. Aber dann habe einer der Geretteten den Täter gesehen und gesagt: "Der sitzt genau auf dem Stein." Der Täter habe auf die fliehenden Schwimmer geschossen. "Wir haben uns flach hingelegt, damit wir nichts abbekommen. Zwischendurch war es doch ganz dicht dran an der Insel. Dann haben wir etwas Abstand genommen." Manche der Geretteten hätten schon im Boot geredet und über ihre schrecklichen Erfahrungen berichtet. Andere seien schon auf dem Boot zusammengebrochen, andere erst später an Land.

Vier bis fünf Mal sei er auf den See gefahren und habe etwa 20 bis 30 Menschen geborgen, "so lange, bis die Polizei kam und gesagt hat: 'Jetzt nicht mehr'". Erst danach konnte Marcel an sich selbst denken: "Ich war selber so durchgefroren, dass ich mich selbst erstmal aufwärmen musste, ich war schon blau angelaufen." Erst am nächsten Morgen wurde das ganze Ausmaß des Grauens bekannt. Mindestens 84 Menschen hat der Attentäter Anders Behring Breivik getötet, bis er schließlich festgenommen wurde. Wie die Überlebenden sprach auch Marcel mit psychologischen Betreuern, um das Erlebte zu verarbeiten: "Jetzt ist an Urlaub nicht mehr zu denken." 

dpa