Die vergessenen Opfer: Familien von Todeszelleninsassen

Gefaltete Hände hinter Gittern
Foto: Getty Images/iStockphoto/sakhorn38
Getöt durch die Todesstrafe: Viele Menschen sehen in deren Hinterbliebenen "Opfer zweiter Klasse".
Die vergessenen Opfer: Familien von Todeszelleninsassen
Celia McWee trauert um ihren Sohn. Oft trauert sie allein, weil andere ihr Leiden als nicht gerechtfertig ansehen. Celia McWees Sohn war ein Mörder. Er wurde hingerichtet.

Celia McWee, 83, freute sich 13 Jahre lang auf jeden Samstag. Es war der schönste Tag der Woche für sie, da sie sich an Samstagen immer schön für ihren Besuch am Sonntagmorgen machte. Doch sie ging nicht zur Kirche. Sie besuchte das Staatsgefängnis. Sie fuhr drei Stunden von Augusta, Georgia nach Ridgeville, South Carolina, um ihren Sohn Jerry McWee zu besuchen. Jerry saß in der Todeszelle, seit er den Lebensmittelhändler John Perry im Jahr 1991 im ländlichen Aiken County ausgeraubt und ermordet hatte. McWee wurde am 14. April 2004 hingerichtet. Er war 52 Jahre alt.

"Samstag war immer ein aufregender Tag, da ich an diesem Tag mein Outfit für den nächsten Tag auswählte und in den Schönheitssalon ging, um gut für ihn auszusehen", berichtet sie weinend. "Und Sonntags auf dem Hinweg war es auch aufregend, denn man hatte etwas, worauf man sich freuen konnte. Doch der Rückweg bestand nur noch aus Tränen."

Solange ihr Sohn im Gefängnis saß, hielten sie die alltäglichen Dinge auf Trab. Montags, Mittwochs und Freitags verließ sie niemals das Haus, bevor sie den Anruf ihres Sohnes erhielt. Dienstags und Donnerstags ging sie einkaufen, machte die Wäsche und saugte Staub. Schließlich kam der Sonntag, an dem sie immer zusammen mit anderen Müttern von Insassen zum Gefängnis fuhr. Sie trafen sich an einer Tankstelle in Columbia, South Carolina.

Das Geräusch der Fußketten

Obwohl ihr Sohn bereits vor vier Jahren hingerichtet wurde, vergeht nicht ein Tag, an dem McWee nicht an die Fußketten denkt, die über den Boden des Gefängnisses schleiften, wenn sie ihn besuchte. "Das Geräusch, das mich am meisten verfolgt, sind die Ketten an ihren Knöcheln, Hüften und Handgelenken, wenn sie von einem ins andere Gebäude gebracht wurden", sagt sie. "Es ist eine Qual zu sehen, wie der eigene Sohn nicht besser als ein Hund behandelt wird."

Das Haus von McWee ist voller Fotos ihres Sohnes. Stolz denkt sie an den Tag, an dem Jerry heiratete und an den Tag, an dem er, obwohl er nur einen High-School-Abschluss besaß, zur Polizei ging. Dann zeigt sie uns ein Schwarzweißfoto von Jerry in einer Rettungssanitäter-Uniform. Nach zwei Jahren als Polizist und fünf Jahren als Feuerwehrmann entschloss sich Jerry, sein Leben der Hilfe Bedürftiger zu widmen und begann, Notfallmedizin zu studieren.

"Er war ein Typ, der Umwege geht, um anderen zu helfen", sagt sie. "Er war genau wie ich, er half bedürftigen Menschen. Ich konnte mir niemals vorstellen, dass meiner Familie so etwas passieren kann. Alles war so schön und einfach und die Dinge ließen sich noch leicht ändern. Es ist wahr, dass er jetzt an einem besseren Ort ist, aber trotzdem wünsche ich mir, dass er bei mir wäre."

Die Gefühle von McWee gleichen denen vieler Angehöriger von Insassen, die vom Staat hingerichtet wurden. Sie versuchen sich vom Trauma zu erholen, jahrelang auf den angesetzten Todestag des geliebten Menschen gewartet zu haben. Und ihr Leiden wird oft noch schlimmer, da viele ihren Schmerz nicht als gerechtfertigt ansehen.

Dürftig genähte Wunden

Wie McWee hatte auch Bill Babbit eine schwere Zeit. Sein jüngerer Bruder Manny, ein mehrfach ausgezeichneter Veteran des Vietnamkrieges, litt schwer unter dem posttraumatischen Stresssyndrom und wurde an seinem 50. Geburtstag, am 3. Mai 1999, in San Quentin hingerichtet. Er wurde beschuldigt, Leah Schendel ausgeraubt zu haben, eine ältere Dame, die bei der Straftat in Sacramento, Kalifornien an einem Herzanfall starb.

Babbitt fühlt sich besser, wenn er durch das Land zieht und über die "unfaire" Hinrichtung seines Bruders spricht. Er ist Mitglied der Organisation "Murder Victims' Families for Human Rights" (MVFHR) [Familien von Mordopfern für Menschenrechte], die im Jahr 2004 in Philadelphia gegründet wurde. Die Organisation bietet Betroffenen Unterstützung und Rechtsbeistand an.

Er legt Zeugnis mit "der Macht der Erinnerung" ab, wie er es nennt. Er öffnet seine dürftig genähten Wunden und lässt heraus, was er über Mannys Fall zu sagen hat. Er möchte der Öffentlichkeit mitteilen, warum die Todesstrafe bei seinem Bruder unnötig war. Doch viele Menschen sehen in ihm nur ein "Opfer zweiter Klasse", der einen Kriminellen verteidigen will, sagt er.

"Mein Aufgabe ist es, sie aufzuklären und ihnen zu sagen 'Hey, Ihr verliert einen Hasen, einen Hund oder eine Katze und trauert um sie. Manny war ein Mensch. Warum darf ich nicht auch um ihn trauern?' Es ist die Ungerechtigkeit, über die ich sprechen muss."

Eine Kette von Opfern

Familien, die die staatliche Hinrichtung eines angehörigen Insassen erleben, werden immer noch nicht als "Opfer von Machtmissbrauch" bezeichnet, wie es die Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer 1985 veröffentlichten Erklärung "Declaration of Basic Principles of Justice for Victims of Crime and Abuse of Power" [Erklärung über die Grundprinzipien der Rechte von Opfern von Verbrechen und Machtmissbrauch] nannte. Der Bericht aus dem Jahr 2006 versuchte, die Rechte von Opfern zu schützen.

Artikel 18 der Erklärung definiert ein Opfer von Machtmissbrauch als eine Person, "die einzeln oder im Kollektiv Schäden erlitten hat, einschließlich physischer oder psychischer Schäden, emotionalem Leiden, wirtschaftlichen Schäden oder einer grundlegende Einschränkung ihrer Grundrechte, durch Handlungen oder Unterlassungen, die zwar noch keine Verletzungen der nationalen Strafgesetze, jedoch der international anerkannten Normen in Bezug auf Menschenrechte darstellen."

In manchen Ländern, einschließlich der Vereinigten Staaten, wird die Tötung durch Giftspritze nicht als Machtmissbrauch angesehen. Die Erklärung sieht die Todesstrafe nicht als "Verletzung von international anerkannten Normen in Bezug auf Menschenrechte" an.

"Doch diese Menschen [Familien von Todeszelleninsassen] haben auf vielfache Art und Weise ein Trauma erlitten und ihre Erfahrungen gleichen sehr den Erfahrungen von Hinterbliebenen von Mordopfern", sagt Susannah Sheffer, Leiterin von "No Silence, No Shame", einem Projekt von MVFH.

Unsichtbare Opfer

Das Problem ist, dass die Leute die Insassen nicht als Menschen ansehen, die eine Familie haben könnten, die nach der Hinrichtung um sie trauert. "Die Familien der Hingerichteten sind unsichtbare Opfer, versteckte Opfer. Viele Menschen denken gar nicht daran, dass eine Hinrichtung immer eine trauernde Familie hinterlässt" sagt Sheffer. "Viele ziehen die Familie zur Verantwortung, eine Art "Schuld aufgrund enger Verbindung." Sie denken, der Insasse sei ein Monster, also müssen die Eltern dieses Monster erschaffen haben."

Jerry McWees Mutter erzählt, dass sie immer wieder von dem Moment heimgesucht wird, als ihr Sohn auf der Hinrichtungsliege gefesselt lag und ihr den letzten Kuss zu hauchte. Sie sagt zudem, dass sie nicht die einzige ist, die wegen dem Tod ihres Sohnes leidet.

"Es ist eine unsagbar schreckliche Erfahrung, die man jahrelang erdulden muss. Sie bestraft nicht nur die Insassen, sondern noch so viele andere Menschen" sagt McWee. "Eine Tochter von Jerry, Misty, begang genau ein Jahr nach seiner Hinrichtung einen Selbstmordversuch. Sie schnitt sich die Pulsadern auf und sagte, sie wolle bei ihrem Vater sein und würde nicht mehr auf diese Erde gehören."

Das Schuldvermächtnis

Im Gegensatz zu Babbitt hat sein Bruder Bill mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Bill verriet Manny an die Polizei und konnte später die Hinrichtung nicht aufhalten. Bill glaubt, dass der Tod seines Bruders besonders unfair ist, weil er an einer psychischen Erkrankung litt. Aus Verzweiflung und Angst, dass der Bruder noch mehr Straftaten begehen könnte, entschied sich Bill dazu, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Sie versprachen ihm, dass seinem Bruder nichts passieren könnte.

Eines Tages bat er Manny, ein wenig auszugehen und sich zu amüsieren. Die Polizei erwartete ihn vor dem Haus und nahm ihn fest. Bill wusste jedoch nicht, dass Manny zum Tode verurteilt werden könnte. Das Schwierigste für ihn war, seiner Mutter zu erklären, warum er das zuließ, sagt er. "Meine Mutter liebt mich und ich weiß, dass sie mir den Verrat an die Polizei vergeben hat. Doch ich kann mir nicht verzeihen, dass ich Mama versprochen habe, dass sie ihn nicht hinrichten werden", sagt er. "Ich habe mit dem Leben meines Bruders gespielt und verloren."

Seit dem Tag, an dem Manny hingerichtet wurde, hat Babbitt nicht die Kraft, seine Familie zu besuchen, nicht mal in den Ferien. Er glaubt, dass er "ihre Liebe und ihr Vertrauen nicht mehr verdient hat", sagt er. Er fühlt sich unwohl unter ihnen, obwohl sie ihm für das, was er getan hat, längst vergeben haben.

"Wenn ich nicht so sehr an Jesus glauben würde, hätte ich mich umgebracht. Ich wollte jedoch nicht, dass meine Familie zu einer weiteren Beerdigung gehen muss. Ich musste stark sein und mein Leben dem Erzählen dieser Geschichte widmen", sagt er. "Ich werde meinen Bruder wieder sehen, wenn meine Zeit auf Erden abgelaufen ist."

Kein Schweigen, Keine Scham

Babbitt und McWee kennen sich inzwischen sehr gut. Sie trafen sich im Frühjahr 2004 beim ersten Treffen von "No Silence, No Shame", einer Gruppe von Familienangehörigen von Todeszelleninsassen. Die Konferenz wurde organisiert, damit Menschen, die das gleiche Leid teilen, sich ihre Geschichte gegenseitig erzählen können.

Dem Direktor von MVFHR Renny Cushing zufolge versucht das Projekt, "den Familien von verurteilten Strafgefangenen ein Gesicht zu geben", indem die Aussagen dieser Familienangehörigen vor Gericht gebracht werden. Er hofft, dass die Richter diese Aussagen berücksichtigen, bevor sie ihr Urteil sprechen.

Cushing ist ebenfalls ein Hinterbliebener. 1988 wurde sein Vater Robert Cushing von zwei Kugeln in seinem Haus in New Hampshire getötet, die von einem Polizisten außerhalb seiner Dienstzeit durch ein Autofenster abgefeuert wurden. Officer Robert McLaughlin Sr. hatte einen schlechten Ruf: Er ermordete seinen besten Freund, war an einem bewaffneten Überfall beteiligt und nahm eine ältere Obdachlose ohne triftigen Grund fest. Cushings Aussage ist auf der MVFHR Webseite  "Forgiving the Unforgivable" zu lesen.
Cushing und sein Bruder behielten den Beamten im Auge, seit er der neue Nachbar ihres Vaters wurde. McLaughlin war nicht davon begeistert, sagt Cushing. In dieser Nacht ging McLaughlin zum Haus der Cushings - um sozusagen die Rechnung zu begleichen. Doch er erschoss den Falschen, behauptet Cushing in seiner Aussage.

"Wenn der Staat den Vater eines Menschen tötet, sollte das Gericht darüber nachdenken, was das wirklich bedeutet. Die aussagekräftigsten Zeugen sind die, deren Vater hingerichtet wurde, als sie noch Kinder waren," sagt Cushing.

Durchschnittlich werden jedes Jahr 50 bis 60 Menschen von der Regierung getötet und die meisten von ihnen haben mindestens drei Familienmitglieder. Dem "Death Penalty Information Center" zufolge bedeutet dies, dass 150 bis 240 mehr Opfer pro Jahr in Kauf genommen werden. "No Silence, No Shame" möchte diese Anzahl mindern, indem sie die Erfahrungen der Hinterbliebenen öffentlich macht, die Auswirkungen der Todesstrafe aufzeigt.

Verlust erforschen

Sandra Jones, Forschungssoziologin und Professorin an der Rowan University in New Jersey, veröffentlichte eine Studie über die Frage der Trauer und des Verlusts bei Familien von Todeszelleninsassen. Jones hat drei Jahre damit verbracht, Beziehungen zu Familienmitgliedern von Todeszelleninsassen aufzubauen. Sie hat Kinder von Insassen ins Delaware County Gefängnis gebracht, damit sie ihre Väter sehen können, auch wenn sich die Familienangehörigen dagegen entschieden haben.

Sie baute eine besonders enge Beziehung zur Familie von Brian Steckel auf. Steckel wurde beschuldigt, die 29-jährige Sandra Lee Long vergewaltigt und ermordet zu haben. Jones war bei Steckels Hinrichtung im Jahr 2005 anwesend. Jetzt schreibt sie ein Buch über ihre persönlichen Erfahrungen mit Familien von Todeszelleninsassen. Sie glaubt, dass die Regierung diese Familien ignoriert, weil sie sich schuldig fühlt.

"Wenn das System diesen Familien die verdiente Aufmerksamkeit schenken würde, würden sie als heuchlerisch dastehen, da gerade dieses System ihre geliebten Mitmenschen tötet," sagt sie.

Weiterhin erklärt sie, dass Familien von Todeszelleninsassen oft vergessen werden, weil die hinterbliebenen Opfer sich nicht ins Licht der Öffentlichkeit bringen wollen. Sie fühlen sich schuldig und schämen sich für die Fehler ihrer Angehörigen. "Die Familien werden ebenfalls als Täter abgestempelt und so sehr stigmatisiert, dass sie sich nicht trauen, Aufmerksamkeit zu erregen. Sie tragen viel Schuld und viel Scham in sich. Sie fragen sich, was sie hätten besser machen können," erklärt sie.

Doppelte Verlierer

"Die Schriftstellerin Elizabeth Sharpen nennt sie 'doppelte Verlierer'", sagt Jones. "Viele der Insassen im Todestrakt haben eine Ehefrau oder einen Onkel oder ein anderes Familienmitglied ermordet. Den hinterbliebenen Familienmitgliedern wird vorgeworfen, den Ermordeten nicht wirklich geachtet zu haben, wenn sie den Verlust der geliebten Person in der Todeszelle betrauern."

Der Verlust eines Kindes an die Todesstrafe ist ein immerwährender Verlust. Es ist so, als hätte man "ein behindertes Kind, dass man bedauert, weil es so viele wichtigen Stationen im Leben verpasst". Es wird zu einer "Wunde, die die niemals heilt und bei jeder gescheiterten Berufung wieder aufreißt."

Der Unterschied zwischen dem Verlust eines Kindes an einen Mörder und dem Verlust an eine Todeszelle liegt darin, dass der zweite viel schmerzhafter ist, da es ein "niemals endendes Warten" bedeutet. Darauf zu warten, dass dein Sohn hingerichtet wird ist "grausam, weil du weißt, dass es passiert, doch nicht weißt, wann es passiert", sagt McWee, deren Sohn Jerry 14 Jahre nach dem Mord an ihrer Tochter Joyce durch Joyces Ehemann am 31. Dezember 1980 hingerichtet wurde.

"[Die Ermordung meiner Tochter] war ein Schock, doch [es war] nichts gegen das Gespenst der Todesstrafe, das 13 Jahre in meinem Kopf herum spukte," sagt sie. "Die Nachricht ihrer Ermordung kam unerwartet, das Warten hingegen ist grausam. Eines Tages rief er mich um 12:30h an und sagte 'Mutter, ich wurde bedient.' Ich wusste nicht was er meinte. Ich wusste nur, dass das Mittagessen um 11:30h serviert wurde, also sagte ich "Was meinst Du, Du wurdest bedient? Was hast Du zu Mittag gegessen? Er sagte, "Mutter, Du verstehst nicht. Sie haben mir den Hinrichtungsbefehl serviert - ich kenne nun den Tag meiner Hinrichtung."

Mord ist Mord

Selbst die Familien von Ermordeten sympathisieren mit Hinterbliebenen von staatlich Hingerichteten und finden es nicht gerecht, dass deren Schmerz anders als ihr eigener behandelt wird.

Reverend Walter Everett, Pastor in der St. Jones United Methodist Church in Sunbury, Conneticut verlor seinen Sohn Scott im Jahr 1987. Scott wurde von Mike Carducci in Easton, Conneticut ermordet. Der Pastor ist seit der Gründung Mitglied bei MVFHR. Er behauptet, dass er sich Eltern sehr nah fühlt, deren Kinder in der Todeszelle sitzen.

Everett findet es wichtig, die Menschen über die Todesstrafe zu informieren, ohne die Betroffenen anders als andere Opfer zu behandeln. Er reist durch das Land, um über die Erfahrungen zu sprechen, die er mit so vielen Familien teilt, deren Angehörigen durch die Todesstrafe hingerichtet wurden.

"Ich sehe sie genauso als Opfer wie mich. Diese Personen, egal was ihre Söhne oder ihre Töchter oder ihre geliebten Menschen getan haben, lieben sie immer noch. Also werden sie zu Opfern, wenn die Person getötet wird," sagt er. "Ich kenne viele Menschen, deren Familienangehörigen hingerichtet wurden. Ich sehe den Schmerz, den sie durchgemacht haben und ihre Geschichte muss ebenfalls erzählt werden, da ihr Schmerz genauso tief ist wie meiner."

Everett nahm an einer Nachtwache in Kalifornien teil, um die Hinrichtung von Clarence Ray Allen zu stoppen, einem 76-Jährigen blinden Mann, der im Rollstuhl sitzt. Allen wurde am 17. Januar 2006 hingerichtet, weil er drei Morde aus seiner Zelle organisierte, als er eine lebenslange Haftstrafe absaß. "Ich bin hingefahren und habe seine Kinder getroffen. Nette Leute. Und sie waren verletzt und verzweifelt, dass er da durch musste", sagt er.

Ein steriles System

Ehemalige Todeszelleninsassen, die begnadigt wurden, glauben fest daran, dass die Trauer ihrer Familien nur selten Aufmerksamkeit findet. Da Hinrichtungen nun hinter verschlossenen Türen stattfinden, ist das System "steril" geworden, meint Kirk Bloodsworth, der erste Insasse einer Todeszelle, der aufgrund eines DNA-Beweises begnadigt wurde.

Bloodsworth saß fast neun Jahre für die Vergewaltigung und Ermordung eines 9-jährigen Mädchens im Gefängnis, dem er niemals begegnet war. "Sie wollen die 'weinende Mutter' des hingerichteten Sohnes nicht zeigen. Egal was er getan hat, er bezahlt immer noch dafür und diesen Teil davon wollen sie nicht zeigen"; sagt er. "Sie hat keine Stimme. Sie hat einen Mörder großgezogen. So wird sie angeschaut, und es ist nicht einmal unbedingt ihre Schuld."

Bloodsworth wurde am 28. Juni 1993 frei gelassen, doch seine Mutter Jeanette lebte nicht lang genug, um ihn aus dem Gefängnis gehen zu sehen. Sie starb kurz zuvor im gleichen Jahr. Bloodsworth wurde in Ketten ins Leichenschauhaus gebracht, doch die Gefängnisbeamten ließen ihn nicht an ihrer Beerdigung teilnehmen. "Meine Mutter ist durch die Hölle gegangen. Ich war ihr Sohn und wurde hingerichtet. Niemand interessierte sich dafür, was sie zu sagen hatte. Ich denke es ist schrecklich, jemanden so zu behandeln," sagt er.

Rob Warden ist Direktor des "Center on Wrongful Conviction" [Zentrum für unschuldig Verurteilte] in Chicago und berichtet seit mehr als 25 Jahren über solche Fälle. Obwohl die Geschichten der Familienangehörigen von Insassen nicht immer nur ignoriert werden, konzentriert man sich doch hauptsächlich auf die Person, die "die Zelle verlässt", sagt Warden.

"Die Geschichten der Angehörigen von unschuldig Verurteilten werden generell übersehen", erklärt er. "Sie werden deutlich vom Schmerz der unschuldigen Person oder der letztendlich hingerichteten Person überschattet."

Das heißt aber nicht, dass diese Geschichten nicht erzählt werden sollten. Im Gegenteil: sie sollten nicht vergessen werden, meint Warden. "Wir sollten wissen, dass die Hinrichtung einer Person, egal wie ruchlos diese Person auch sein mag, immer das Ende dieser Person bedeutet," sagt Warden. "Doch der Schmerz, den Eltern, Geschwister oder Kinder ertragen müssen, ist für immer. Er wird nie versiegen. Er wird immer da sein. Er bleibt."


Federica Valabrega arbeitet als Fotografin und Journalistin in Washington D.C. (USA).

Übersetzung aus dem Englischen:

Onetranslations, Constanze Rüther, M.A., www.onetranslations.eu

Dieser Artikel erschien erstmals am 30. November 2009 auf evangelisch.de