Wer freiwillig kommt, wird sich selbst überlassen

Foto: Florian Bachmeier
Ibrahim Ahmed (46) aus dem bulgarischen Razgrad ist vor vier Jahren mit seiner Lebensgefährtin nach Duisburg-Hochfeld gezogen. Eine feste Stelle hat er noch nicht gefunden.
Wer freiwillig kommt, wird sich selbst überlassen
Schon lange suchen Rumänen und Bulgaren eine Perspektive in Deutschland. Geholfen wird ihnen nur selten
Seit Anfang Januar haben rumänische und bulgarische Staatsangehörige das Recht, genau wie Westeuropäer uneingeschränkt eine Arbeitsstelle in der ganzen Europäischen Union zu suchen. Eine "Armutseinwanderung" nach Deutschland wird befürchtet. Doch etliche Rumänen und Bulgaren haben längst in Deutschland Fuß gefasst - trotz schwieriger Umstände.

"Deutschland muss sich an diese Realität gewöhnen", sagt die rumänischstämmige Politologin Alina Mungiu Pippidi von der Hertie School of Governance in Berlin. Die meisten früheren "Gastarbeiter" sind nie in ihre Ursprungsländer zurückgekehrt. "Auch die Rumänen und Bulgaren kommen, um hier zu bleiben. Da müssen wir uns keine Illusionen machen." Das Wohlstandsgefälle zieht Menschen aus den beiden Balkanländern, die 2007 der EU beigetreten sind, nach Deutschland. Die Wirtschaftskrise fordert in vielen Ländern Süd- und Osteuropas einen hohen Preis.

Lange Jahre bitterer Armut und Tageslöhnerei

Ibrahim Ahmed ist einer, der diesen Preis immer wieder zahlen musste. Der 46-Jährige ist in Bulgarien geboren, in der kleinen Stadt Razgrad unweit von der Donau. Den Begriff "Strukturwandel" kennt er nicht, doch darüber, wie sich das anfühlt, kann er Bände erzählen. "Vor der Wende habe ich angefangen, in der Bauindustrie zu arbeiten", erinnert er sich. "Da sorgte der bulgarische Staat dafür, dass die Arbeiter günstige Wohnungen bekommen. Wir fühlten uns in Sicherheit, obwohl wir nicht ausreisen durften."

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Doch dann kamen die 90er Jahre und die Planwirtschaft Bulgariens kollabierte. Ahmed, der als Roma und Türkischsprachiger in doppelter Hinsicht zu einer Minderheit gehört, fand sich sehr früh auf der Liste der Entlassenen. Es folgten lange Jahre von bitterer Armut und prekärer Tageslöhnerei.

Erst 2005, kurz vor dem EU-Beitritt des Landes, ging es wieder besser. "Es wurden wieder Wohnungen gebaut, und Einkaufszentren. Es gab endlich genug Arbeit, aber alles wurde auch viel teurer", erzählt Ahmed. Dann platzte die Immobilien- und Konsumblase und setzte dem kurzen Aufschwung ein abruptes Ende. Bulgarien war jetzt in der EU, doch die Hoffnung auf eine schnelle Annäherung an die westeuropäischen Lebensstandards erwies sich als Illusion. Ibrahim Ahmed verlor wieder seine Stelle. Er beschloss, seine Heimat zu verlassen. "Wenn Deutschland nicht zu uns kommt, müssen wir halt nach Deutschland", sagt er mit bitterem balkanischem Humor.

Völlig freizügig – und sich selbst überlassen

Heute sitzt Ibrahim Ahmed auf seinem Sofa, das er auf der Straße gefunden hat, als er vor vier Jahren nach Duisburg-Hochfeld zog. Er war sich nicht sicher, ob er die alten Möbelstücke mitnehmen durfte. Dass man Sperrmüll einfach so auf die Straße stellt, kannte er aus Bulgarien nicht. "Bei uns finden sich doch immer Familienangehörige oder Freunde, die so etwas gebrauchen könnten", sagt er. Aber andere Bulgaren, die in Duisburg lebten, haben ihm erklärt, dass er das Sofa nach Hause schleppen darf. "Sie haben mir viel geholfen, vor allem die türkischstämmigen Bulgaren, aber auch die Türken aus der Türkei. Schließlich sprechen wir die gleiche Sprache."

Das Straßenbild in Duisburg-Hochfeld hat sich in den letzten Jahren verändert.

Rund 400 Euro im Monat muss er für die Zweizimmerwohnung zahlen, die er zusammen mit seiner Lebensgefährtin Edje Salijewa bewohnt. Keiner von ihnen hat eine feste Stelle, ab und an arbeitet Ibrahim Ahmed als Tagelöhner, meistens bei türkischstämmigen Arbeitgebern, mit denen er zumindest kommunizieren kann. Deutsch spricht er nicht, niemand hat ihm einen Sprachkurs angeboten. "Ich wollte es immer lernen, aber ich konnte es mir nie leisten, den Kurs aus der eigenen Tasche zu zahlen." Jetzt hat Ahmed zusammen mit anderen Bulgaren aus der Nachbarschaft einen Kulturverein gegründet. Der soll bald Deutschunterricht und andere Integrationskurse für die neuen Migranten anbieten.

"Einwanderer aus Bulgarien und Rumänien befinden sich zurzeit in einer seltsamen Lage", stellt Hassan Dschewachir, der Vorsitzende des Vereins, fest. "Einerseits dürfen sie als EU-Bürger jederzeit problemlos einreisen und in vielen Fällen bereits seit Jahren einer Beschäftigung nachgehen. Andererseits gibt es gerade deswegen keine klaren Prozeduren, keine Integrationsangebote. Ab 2014 sind sie völlig freizügig – und sich selbst überlassen."

Krankenpflege: Ein Praktikum und eine Perspektive

Die paradoxe Situation ist zumindest teilweise auf einen mangelnden politischen Willen zurückzuführen. Als Rumänien und Bulgarien der EU beigetreten sind, bestand die deutsche Regierung, wie auch andere in Westeuropa, auf einer siebenjährigen Übergangsphase, in der nur eine eingeschränkte Freizügigkeit gilt. "Doch diese Zeit wurde nicht genutzt, um sich auf die neue Migration vorzubereiten", kritisiert die Politologin Alina Mungiu Pippidi. "Wie sehr oft in Deutschland wurden die Probleme nicht thematisiert, weil man sich nicht traute, den Wählern die Wahrheit ins Gesicht zu sagen: Rumänen und Bulgaren sind Europäer und wir müssen für sie zahlen, auch wenn es teuer wird, weil unsere Unternehmen davon profitieren." Bei der Erweiterung und beim Aufbau der EU seien Fehler gemacht worden. "Die sozialen Aspekte wurden vernachlässigt und jetzt bekommen wir die Konsequenzen zu spüren", sagt die Politologin.

Attila Kis (23) aus dem rumänischen Targu Mures arbeitet als Pflegekraft bei den städtischen Seniorendiensten in Mülheim an der Ruhr.

Attila Kis aus der siebenbürgischen Stadt Targu Mures ist 23. Nach dem Abitur hat er in Rumänien eine Ausbildung zum Krankenpfleger abgeschlossen. Doch die Aussicht, sich für eine Vollzeitstelle in einem rumänischen Krankenhaus zu bewerben, fand er wenig erfreulich. Rund 250 Euro im Monat hätte das Gehalt betragen, doch Sparprogramme der rumänischen Regierung erlaubten keine neuen Einstellungen im öffentlichen Sektor. Kis beschloss 2011, sich für ein Praktikum in Deutschland zu bewerben: 350 Euro im Monat, dazu ein Zimmer und die Perspektive auf eine Vollzeitbeschäftigung.

Die Rechnung ging auf. Der junge Mann kam nach Deutschland und fing als Pflegekraft bei den städtischen Seniorendiensten in Mülheim an der Ruhr an. "Wir brauchten dringend Arbeitskräfte, egal woher sie kommen", sagt Geschäftsführer Heinz Rinas. "Mit den neuen Mitarbeitern aus Rumänien haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Sie haben nicht nur sehr schnell Deutsch gelernt, sie sind eine Bereicherung, weil sie aufgrund ihrer rumänischen Ausbildung über genau die Kompetenzen verfügen, die wir suchen."

Wer kommen wollte, ist schon längst hier

Allerdings war es bis vor kurzem für die Arbeitgeber nicht sehr einfach, jemanden aus Rumänien einzustellen. Bis Ende 2013 galt noch die Übergangsregelung, die "eingeschränkte Freizügigkeit". Dies bedeutet, dass nicht alle Bürger aus Rumänien und Bulgarien in Mitteleuropa Arbeit suchen durften.

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Menschen mit Hochschulabschluss, Selbstständige und einige Arbeitnehmerkategorien waren schon damals völlig freizügig, für alle anderen mussten deutsche Arbeitgeber bei den zuständigen Arbeitsämtern einen Antrag auf Arbeitsgenehmigung stellen. Diese Genehmigung wurde in der Regel ausgestellt, doch das Verfahren war bürokratisch. In der Theorie mussten die Arbeitgeber nachweisen, dass es keine geeigneten westeuropäischen Kandidaten für die Stelle gab. In der Praxis kam die Arbeitsagentur den Unternehmen fast immer entgegen.

Hinzu kommt, dass diese Regelung sehr einfach umgegangen werden konnte, in dem sich die rumänischen und bulgarischen Bürger selbstständig machten. Rumänen und Bulgaren, die tatsächlich nach Deutschland wollten, haben dies schon längst getan. Spätestens nach drei Jahren Aufenthalt stehen ihnen sämtliche Rechte zu, die westeuropäische Staatsbürger haben. Weil EU-Bürger zudem uneingeschränkt einreisen dürfen, bliebe eine hypothetische Abschiebung völlig wirkungslos: Der Betroffene konnte einfach am nächsten Tag wieder einreisen.