"Osama bin Ladens Tod hat die Welt nicht sicherer gemacht"

Osama-bin-Laden-Verehrung im Jemen 2012
dpa/STR
Osama-bin-Laden-Verehrung im Jemen 2012: Al-Kaida ist inzwischen weitaus stärker in regionalen Konflikten aktiv als in den USA oder in Europa.
"Osama bin Ladens Tod hat die Welt nicht sicherer gemacht"
Vor einem Jahr tötete ein US-Einsatzkommando Osama bin Laden in Pakistan. Der Politologe und Friedensforscher Jochen Hippler erläutert im Gespräch mit evangelisch.de, warum die Aktion seines Erachtens die Welt nicht sicherer gemacht hat - und wie groß die Bedrohung durch Al-Kaida heute noch ist.

Herr Hippler, welche Folgen hat der Tod von Osama bin Laden für die Welt?

Jochen Hippler: Sie ist nicht sicherer geworden. Erstens, weil die Bedeutung bin Ladens zum Zeitpunkt seiner Tötung bereits eher symbolisch und er nicht mehr in die konkrete Planung von Gewalttaten einbezogen war. Zweitens hängt die Quelle von Gewalt nicht so sehr mit einzelnen Personen zusammen als mit politischen Konflikten in bestimmten Regionen. Wenn sich die Situation in Libyen und in Syrien bis hin zu Massakern und Bürgerkrieg verschärft hat, dann ist das ein wesentlich stärkerer Anreiz für politische Gewalt als irgendein möchtegern-ideologischer Führer, der eigentlich schon lange an den Rand der Entwicklung gedrängt worden war.

Bin Laden war also eher eine Symbolfigur im Westen als bei seinen eigenen Sympathisanten?

Hippler: Sowohl als auch. Er hatte noch ein gewisses Mobilisierungspotenzial in einer relativ engen extremistischen Szene. Aber wenn man in Pakistan jahrelang in einem Haus ohne Telefon sitzt, ohne Internetzugang und ohne Kommunikationsmöglichkeiten, die über gelegentliche Briefe per Kurier hinausgehen, dann liegt es auf der Hand, dass man in konkrete Anschlagsplanungen und Leitungsfunktionen nicht mehr einbezogen sein kann.

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Geht von Al-Kaida heute eine geringere Bedrohung aus als früher?

Hippler: Das ist so pauschal schwer zu beantworten. Zunächst einmal denke ich, dass Al-Kaida in der politischen Diskussion um den amerikanischen "Krieg gegen den Terror" teilweise deutlich überschätzt worden ist. Mitte der 2000er-Jahre etwa hat Al-Kaida - damals zumindest ideologisch der wichtigste Gegner der USA - in einem Jahr weltweit fünf oder sechs US-Bürger getötet, wenn man von Irakkrieg absieht. Das war unbestritten furchtbar für die Betroffenen und ihre Familien, aber keine strategische Bedrohung der USA oder des Westens. Die Gefahr politischer Gewalt erwächst eher aus regionalen Konflikten und nicht aus der Al-Kaida-Struktur, die dann versucht hat, diese Konflikte für sich zu nutzen, beispielsweise im Irak.

Al-Kaida war zum Zeitpunkt der Tötung Osama bin Ladens auf dem absteigenden Ast. Dadurch, dass der arabische Frühling teilweise in Bürgerkriege umgekippt ist, die gelegentlich wie etwa in Syrien eine religiös-extremistische Komponente entwickeln können, ist ein Umfeld entstanden, in dem Al-Kaida möglicherweise noch einmal gestärkt werden wird - zum Beispiel im Jemen und in Somalia. Es sieht momentan danach aus, als sei das eher eine Bedrohung der regionalen Stabilität als eine Bedrohung der USA oder des Westens insgesamt.

"Die Angst vor Gewalt ist größer als die tatsächliche Gefahr"

Ist die Bedrohung in den Industrieländern also zurückgegangen?

Hippler: Vermutlich, aber sie hielt sie nach dem 11. September 2001 ohnehin in Grenzen. Wenn Sie sich die Daten der Europäischen Polizeibehörde anschauen, dann sind die Anschlags- und Opferzahlen durch islamistische Terroristen in EU-Ländern verglichen mit denen anderer Terroristen verschwindend gering. 2010 gab es insgesamt 249 terroristische Anschläge, davon hatten nach amtlichen Angaben nur drei einen islamistischen Hintergrund.

Dazu kommt die Frage, welche Art von Sicherheit man meint. Die Atomkatastrophe in Fukushima hat etwas mit Sicherheit zu tun, Aids und die Klimaerwärmung haben mit Sicherheit zu tun, der Autoverkehr und vieles mehr ebenfalls. Wenn Sie da den islamistischen Terrorismus einordnen, ist er bezogen auf seine Opferzahlen ein ziemliches Randphänomen. Aber seine politisch-symbolische Bedeutung ist demgegenüber natürlich beträchtlich.

Das subjektive Sicherheitsgefühl ist vermutlich für viele in den USA nach Bin Ladens Tod gewachsen.

Hippler: Das kann schon sein. Zumal wir wissen, dass in Europa und erst recht in den USA die Angst vor Gewalt allgemein und besonders politischer Gewalt in der Regel deutlich über die reale Gefährdung hinausgeht. Das gilt auch für Raubüberfälle oder andere Verbrechen. Das Gefühl der Bedrohung ist weit größer als die Wahrscheinlichkeit, davon persönlich betroffen sein zu können.

Eine andere Frage ist, ob ein Staat gezielt töten darf. Wenn er sich das Recht dazu selbst erteilt - macht das die Welt nicht auch unsicherer?

Hippler: Das ist richtig. Eines der Dinge, von denen wir hoffen, dass die Welt dadurch stabilisiert und sicherer gemacht wird, sind rechtsstaatliche Verfahren statt dem Gesetz des Dschungels. Das bedeutet, alle Akteure - selbst Verbrecher - können sich darauf verlassen, dass weder privat noch öffentlich Selbstjustiz geübt wird, sondern dass Täter in geregelten Verfahren zur Verantwortung gezogen werden. Auch das kann mittelfristig stabilisierend wirken und Konflikte dämpfen. Wenn dann Staaten hingegen Völkerrecht brechen wie die USA das unter George Bush taten, oder wenn man potenzielle Verbrecher liquidiert statt sie vor Gericht zu stellen, was im Fall Bin Ladens nach allem was wir wissen durchaus möglich gewesen wäre, dann stellt sich schon die Frage, ob rechtsstaatliche Verfahren nicht dem Kampf gegen den Terrorismus mehr gedient hätten.

"Das Wort 'Krieg' wertet die Gegner auf"

Wie kann ein Staat überhaupt einen Krieg gegen eine Verbrecherbande führen?

Hippler: Nur metaphorisch. In den USA gab es auch den "Krieg gegen die Drogen" und immer wieder alle möglichen andere "Kriege". Schon Präsident Reagan hat 1986 einen "Krieg gegen den Terrorismus" verkündet. Die Frage ist berechtigt, ob Staaten Kriege gegen Einzelpersonen oder gegen gewaltsame Teile der Zivilgesellschaft führen können. Völkerrechtlich ist das aus meiner Sicht weder möglich noch sinnvoll. Der Kriegsbegriff führt dazu, den Gegner politisch aufzuwerten, indem man - statt ihn vor Gericht zu stellen - ihn auf eine gleiche politische Ebene hebt. So ernst genommen zu werden, ist für dessen Anhänger wiederum die Bestätigung der eigenen Wichtigkeit und ein politischer Erfolg. Das war also keine gute Idee.

Können die USA den "Krieg gegen den Terror" gewinnen oder wenigstens irgendwann für beendet erklären?

Hippler: Bush hat von einem Krieg gegen eher diffuse Strukturen über den Zeitraum mehrerer Generationen hinweg gesprochen. Das löst den Kriegsbegriff in etwas Vages auf. Solch einen Krieg kann man letztlich nicht gewinnen, weil man nicht einmal sagen kann, wer die Gegner sind, während man zugleich jedes eigene gewalttätige Verhalten damit nach der Devise rechtfertigt: Es ist Krieg, und da gelten andere als rechtsstaatliche Gesetze - bis hin zu Guantánamo.

Gibt es im Al-Kaida-Umfeld eine ähnliche Symbol- oder Leitfigur wie Osama bin Laden?

Hippler: Das kann ich nicht erkennen. Sein Nachfolger hat weniger Prestige und ist weniger charismatisch, wobei auch Bin Laden nicht immer so charismatisch wirkte wie er selbst sich das vorstellte. Was da inzwischen aus der zweiten und dritten Reihe nachgewachsen ist, hat viel geringere politische und organisatorische Erfahrung. Eine allseits akzeptierte, kompetente Führungspersönlichkeit mit Symbolcharakter sehe ich bei Al-Kaida nicht.