Zulehner: "Die Zeit der Volkskirche ist vorbei"

Paul M. Zulehner, katholischer Pastoraltheologe
Foto: Martin Rothe
Paul M. Zulehner, katholischer Pastoraltheologe und Religionssoziologe, sieht das Ende der Volkskirche gekommen.
Zulehner: "Die Zeit der Volkskirche ist vorbei"
Die Kirche befinde sich derzeit in einem epochalen Umbau voller Chancen, sagt der berühmte katholische Religionssoziologe und Pastoraltheologe Paul M. Zulehner. Damit dieser Umbau nicht in Bürokratie und Resignation ende, brauche es ermutigende Visionen. Etwa die urchristliche Vision von einer "Zivilisation der Liebe", von der Kirche als "Heil-Land" in der Spur Christi. Zulehner erklärt, warum die Epoche der Volkskirche, des Konfessionalismus und der Pfarrerzentriertheit zu Ende sei. Er ist überzeugt: Jetzt beginne die Zeit der inspirierten Laien, die selbst aktiv würden und sich auf neue Art vernetzten.

Herr Professor Zulehner, stecken wir heute in einer Kirchenkrise?

Paul M. Zulehner: Ich spreche lieber von "Übergang". Das heißt: Nicht die Kirche vergeht, sondern eine bestimmte Gestalt der Kirche vergeht – eine Gestalt, die zu einer Zeit passte, die heute zu Ende ist.

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Welche Gestalt meinen Sie?

Zulehner: Die Zeit der Volkskirche ist vorbei. Denn "Volkskirche" hieß: "Alle die zum Volk gehören, gehören auch zur Kirche, genauer: zur Konfession des Landesherrn. Wer dem widerstrebt, wird ausgewiesen – entweder ins Ausland oder ins Jenseits!" Aber heute sind die Leute nicht mehr zwangsweise an eine Kirche gebunden. Sie können sich hineinwählen oder herauswählen. Da ist es nur natürlich, dass jetzt die Zahl jener abnimmt – durch Bereinigung, durch Austritte – die nur dazugehören, ohne das selbst gewählt zu haben.

Wie kann die Kirche mit dieser "Bereinigung" konstruktiv umgehen?

Zulehner: Leider haben wir uns angewöhnt, alle statistischen Entwicklungen unserer Zeit mit dem Etikett "nur noch" zu versehen, weil wir in Zeiten der Volkskirche gewöhnt waren, dass 100 Prozent der Bevölkerung zu uns gehören. Wenn wir insgeheim sagen: "Eigentlich gehören uns alle! Warum sind wir nur noch so wenige?" messen wir mit veralteten Kriterien. Das neue Denken müsste sagen: "Wir rechnen jetzt nicht mehr von 100 herunter, sondern von Null hinauf! Wir sagen: Bei wie vielen gelingt es uns denn schon heute, sie mit den Visionen der Jesusbewegung zu infizieren, so dass sie in unsere Gemeinschaft eintreten und mitarbeiten?"

Ein ungewohnter Begriff: die "Jesusbewegung"!

Zulehner: Ja, ich rede zurzeit lieber von der "Jesusbewegung" als von der "Kirche", weil dieser Begriff nach Auskunft vieler Studien beschädigt ist, vor allem unter Jugendlichen.

"Die Kirche wird gesunden, wenn sie lernt, wieder von sich abzusehen"

Damit weisen Sie zugleich darauf hin, dass die Kirche kein Selbstzweck ist.

Zulehner: Sie ist nur Instrument! Ich glaube, wir müssen die Kirche wieder massiv relativieren. Die aktuelle Selbstbeschäftigung der Kirche, dieser neurotische Kirchennarzissmus, ist ein Krankheitszeichen. Die Kirche wird gesunden, wenn sie lernt, wieder von sich abzusehen. Und relativieren bedeutet auch: Stärker bezogen sein auf jenen Gott, der in Christus und in seinem Geist am Werk ist. Wer sich auf Gott bezieht, nimmt seine eigene Wichtigkeit zurück.

Aber zuerst brauchen wir die Diagnose: Woran leidet die Kirche heute – die evangelischen Landeskirchen wie auch die römisch-katholischen Diözesen?

Zulehner: Wir versuchen immer noch, die herkömmliche Gestalt von Kirche zu retten. Da machen wir auf Teufel komm raus Strukturreformen, die aber brutal bürokratisch und völlig visionsfrei sind! Das Stadium der Bürokratie ist die Phase vor dem Tod. Deshalb sollten wir uns lieber fragen: Was ist die Vision der Kirche von heute? Und erst im zweiten Schritt schauen wir nach der dazu passenden Struktur. Wir brauchen zuerst den Wein und dann den Schlauch. Zurzeit machen wir Schläuche – und haben keinen Wein.

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In Ihrem neuen Buch präsentieren Sie anhand von Bildern und frühchristlichen Gleichnissen Visionen der "Jesusbewegung". Wie würden Sie die "Ursprungsvision" des Christentums kurzfassen?

Zulehner: Wenn wir uns heute in die Jesuserzählung hineinlesen, werden wir immer zwei Leitmotive finden: Zum einen: Wer in Gott eintaucht, taucht bei den Armen wieder auf! Der Weg Jesu führt immer zu denen, die der Heilung bedürfen. Und die Kirche ist berufen, in der Nachfolge des Heilands "Heil-Land" zu sein!

Und das zweite Leitmotiv?

Zulehner: Das radikale Vertrauen in das zuvorkommende Erbarmen Gottes! Denn das Risiko der selbstlosen Verausgabung für die Armen kann nur dann eingegangen werden, wenn ich zutiefst verankert bin in einem Gott, der mich trägt und hält – bis in den Tod hinein. Wenn ich weiß, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Wenn ich deshalb alles hergeben kann, weil mein Reichtum nicht ich selbst bin, sondern Gott für mich ist.

Wenn der Tod nicht das letzte Wort hat – was dann?

Zulehner: Die Liebe natürlich, die Gott selber ist! So gesehen reduziert sich alles auf den Kern der Botschaft Jesu: "Liebe Gott und den Nächsten wie dich selbst!" Gottes Ziel ist, dass seine Schöpfung ihre Vollendung in der Liebe findet. Sie soll eine Zivilisation der Liebe werden. Jesus nennt dies das "Reich Gottes".

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Sie haben in diesem Zusammenhang von einer "Plattform aller Menschen guten Willens" gesprochen. Was meinen Sie damit?

Zulehner: Die Zumutung, ein liebender Mensch zu werden, ist dem Atheisten oder Buddhisten genauso aufgetragen wie dem gläubigen Protestanten oder Katholiken. Das eint uns alle. Die moderne Anthropologie stimmt mit dem Evangelium in der Diagnose überein, dass der Mensch dort, wo er Angst um sich selbst hat – letztlich Angst vor dem Tod – zu den Strategien der Gewalt, Gier und Lüge greift. Er versucht krampfhaft, sich selbst zu behaupten, weil er nicht mehr vertrauen kann. Liebe heißt immer: sich preisgeben können. Die Angst ist daher der eigentliche Feind der Liebe. Und alle Menschen guten Willens sollen gemeinsam dafür sorgen, dass in der Welt die Liebe aufblüht und die Angst kleiner wird.

Wenn das alle Menschen guten Willens angeht: Wozu braucht es dann noch die  "Jesusbewegung"?

Zulehner: Die wachsende Zivilisation der Liebe ist sozusagen der atheistische Modus unseres Auftrages, das verhüllte Heil. Wir Christen sagen darüber hinausgehend: Uns ist enthüllt, dass der Schlüssel im Kampf gegen die Todesangst ein Gesicht trägt: nämlich Jesus von Nazareth, der den Tod überwunden hat! Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir den Sieg nicht aus eigenem Vermögen erringen müssen. Nicht aus uns selbst heraus werden wir Liebende, sondern weil wir uns zuvor schon als geliebt erfahren. Gott kommt unserem Tun mit seiner Gnade zuvor.

Wenn wir – dieser urchristlichen Vision entsprechend – der Kirche eine neue Gestalt geben wollen: Wie könnte die aussehen?

Zulehner: Wir sollten nach Leuten Ausschau halten, die wild entschlossen sind, sich der Jesusbewegung anzuschließen: ältere und junge Leute, die dem Evangelium Platz machen in ihrem Leben, die es durchleuchten lassen und in Aktivität umsetzen! Es geht darum, sie zu gewinnen und zu vernetzen. Und an welchen Orten Sie diese Gemeinschaften finden – sei es in herkömmlichen Kirchengemeinden oder nicht – das ist zweitrangig. Das wird vielfältige Formen annehmen, die wir heute noch nicht so genau kennen. Das kann man nicht von oben durchplanen und auferlegen.

"Die Zeit der Expertenkirche geht zu Ende. Jetzt beginnt die Zeit der Laien!"

Bei Ihren religionssoziologischen Forschungen haben Sie festgestellt: Besonders stark säkularisiert haben sich in Europa die zuvor protestantisch geprägten Regionen. Woran liegt das?

Zulehner: Dem Protestantismus fehlt die Theologie der Vernetzung. Er hat keine gute Ekklesiologie [Lehre von der Kirche]. Für den Protestanten ist Ekklesiologie nur eine Frage der Bürokratie. Er meint, niemanden zu brauchen – keine Kirche, keine Mitchristen – sondern nur seinen gnädigen Gott. Mit dieser Individualisierung ist der Protestantismus ein Produkt der angehenden Moderne – und zugleich ihr prominentestes Opfer. Er hat vergessen, dass nur der glaubt, der kapiert hat: Wenn ich Kind Gottes werde, werden alle anderen mir zu Brüdern und Schwestern! Wer Christ wird, findet sich in einer Gemeinschaft vor.

Diese Lektion ist bei den freikirchlichen und römisch-katholischen Gotteskindern offenbar nicht so stark in Vergessenheit geraten.

Zulehner: Wir Katholiken denken dafür oft zu kollektivistisch, zu autoritär, zu bevormundend. Das heißt, jede der beiden großen Kirchen hat genau das entgegengesetzte Problem. Wir könnten eigentlich ökumenisch toll voneinander lernen!

Vielleicht denken wir in beiden großen Kirchen noch zu pfarrerzentriert. Vielleicht gibt es auf beiden Seiten eine verfehlte Sehnsucht nach charismatischen priesterlichen Vorbildern.

Zulehner: Ja, das ist der Versuch, die Verantwortung zu delegieren. Die Infantilisierung der Kirche! Aber wir sind Kinder Gottes, nicht Kinder der Kirche. Erwachsen werden im Glauben! – das wäre der Wunsch.

Wie könnte dieses Erwachsenwerden aussehen?

Zulehner: Ich glaube, wir müssen weg von der Phantasie, dass wir die Kirche für die Leute sind und sie versorgen mit Gemeinden und Pfarrern. Nicht die Pfarrer müssen schauen, dass es mehr Mitglieder gibt. Die Mitglieder selbst müssen schauen, dass sie sich vermehren! Wir brauchen in der Kirche wieder entschiedene Christen, die sagen. "Wir sind Teil eines Anfangs!" Die Zeit der Expertenkirche geht zu Ende. Jetzt beginnt die Zeit der Laien!