"Eine Kirche, die die Schwachen im Blick behält"

Pfarrerin Elke Maicher
Foto: Martin Rothe
Pfarrerin Elke Maicher hält Fusionen zu Großgemeinden für kritisch und stellt die Frage: Wann ist eine Gemeinde keine Gemeinde mehr?
"Eine Kirche, die die Schwachen im Blick behält"
Elke Maicher ist dort Pfarrerin, wo es weh tut: im sozialen Brennpunkt Ludwigshafen-West. Vor welchen Herausforderungen steht sie jeden Tag? Was bedeuten die aktuellen Strukturreformen der Kirche für ihren Pfarrdienst an der Basis? Mehr dazu in Folge 2 der neuen Interviewserie auf evangelisch.de: "Wie wollen wir glauben? Gedanken über die Kirche der Zukunft".

Frau Pfarrerin Maicher, in Ihrem Gemeindebezirk hier in Ludwigshafen-West leben überdurchschnittlich viele arme oder einsame Menschen. Und dann gibt es noch einen besonderen sozialen Brennpunkt...

Elke Maicher: Ja, dort leben kinderreiche Familien, die anderswo ihre Miete nicht zahlen können, außerdem Leute, die sich normalen Mietbedingungen nicht unterordnen können, und viele Alleinstehende, die psychische oder auch alkoholische Probleme haben. Die Wohnungen dort sind wirklich lausig.

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Haben die Leute eine Chance, aus diesem Kiez wieder wegzukommen?

Maicher: Das ist eigentlich das Schlimmste: Es ist wie ein Ghetto, dem sie kaum wieder entkommen können. Denn auf dem Arbeitsmarkt stehen ihre Chancen schlecht – wegen ihrer Adresse.

Was kann die Kirche tun für die Leute hier?

Maicher: An den schwierigen Problemen hier im sozialen Brennpunkt können wir als Kirchengemeinde leider nicht viel ändern. Aber es ist wichtig, dass wir hier präsent sind. Dass im Stadtteil auch weiterhin die Glocken läuten, dass wir Gottesdienste feiern, die Leute aufsuchen und ihnen Begleitung anbieten.

Macht Ihre Gemeinde auch diakonische Angebote?

Maicher: Ja, zum Beispiel haben wir 2007 eine kleine Kinder- und Jugendbibliothek eröffnet. Denn Bücher sind teuer für Familien, die aufs Geld schauen müssen. Wir veranstalten regelmäßig einen Kindertag mit Mittagessen. Und für die Stadtteilfeste stellen wir unser schönes Kirchengelände mitten im Viertel zur Verfügung. Die Anwohner schätzen diese Gelegenheiten, mal aus ihrem grauen Alltag rauszukommen, sehr.

Haben Sie durch Ihre Erfahrungen hier einen anderen Blick auf Kirche bekommen?

Maicher: Vielleicht ja. Aber auch viele Fragen.

Welche Fragen meinen Sie?

Maicher: Ob unsere Kirche die benachteiligten Leute noch erreicht. Ob wir uns zu sehr an der Mittelschicht orientieren und dem Prekariat bestenfalls Almosen hinwerfen. Zu unserer Gemeinde gehören auch viele Hartz-IV-Empfänger, aber sie kommen in unseren Gremien nicht vor. Ich frage mich: Wie können wir diese Leute so beteiligen, dass sie merken: "Das ist auch meine Kirche"?

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Warum bringen sie sich nicht von selbst stärker ein?

Maicher: Ich denke, weil viele dieser Leute wenig Vertrauen zu Institutionen haben, und dazu gehört auch die Kirche. Vielleicht gab es Enttäuschungen, wo Kirche in der Begegnung mit ihnen oder ihren Bekannten einmal versagt hat.

Haben Sie genügend ehrenamtliche Mitstreiter hier?

Maicher: Die werden immer weniger. Ich glaube, wir Pfarrer müssen projektbezogener denken: Viele hilfsbereite Gemeindeglieder fürchten, dass sie, wenn sie sich einmal angeboten haben, immer wieder herangezogen werden. Wir müssen den Ehrenamtlichen ermöglichen, wieder gehen zu können – ohne ein schlechtes Gewissen.

Überall in Deutschland unterzieht sich die Kirche Strukturreformen. Wie sieht das im evangelischen Kirchenbezirk Ludwigshafen aus?

Maicher: Unser Dekanat ist in drei Kooperationsregionen eingeteilt worden. Das bedeutet: Wir arbeiten jetzt mit unseren Nachbargemeinden in manchen Feldern zusammen. Nicht jede Kirchengemeinde muss mehr alles anbieten, sondern wir können unsere Ressourcen bündeln und uns jeweils spezielle Profile zulegen.

Wie empfinden Sie diesen Prozess?

Maicher: Für mich ist es schön, über den Tellerrand zu schauen und mit den Kollegen gemeinsam Lösungen zu finden, zum Beispiel für Konfirmandenfreizeiten. Sinnvoll ist auch, dass jetzt nicht mehr jede Gemeinde das ganze Spektrum anbieten muss. Natürlich besteht die Gefahr, dass die vielen Absprachen zuviel Zeit verschlingen. Aber prinzipiell tut uns die Zusammenarbeit gut.
Womit ich mehr Probleme habe, ist, wenn unsere Kirche meint, der Öffentlichkeit viele Events bieten zu müssen. Wir Pfarrer fragen uns da manchmal: Wenn wir uns dafür ständig Beiträge ausdenken müssen – wann sollen wir eigentlich noch unsere normale Arbeit machen?

Auch bei Ihnen stehen Gemeindefusionen bevor: Weniger Pfarrer werden für immer mehr Gemeindeglieder zuständig.

Maicher: Natürlich sehe ich die Notwendigkeit dazu. Zugleich wird die Frage drängender: Gibt es eine rote Linie, ab der eine Gemeinde keine Gemeinde mehr ist? Ich weiß nicht, ob eine anonyme Riesengemeinde noch die Kirche ist, die die Menschen brauchen. Denn Kirche ist ja auch Nachbarschaft. Und ihr Personal sollte als Ansprechpartner erreichbar sein.

Bietet ein "Rückzug aus der Fläche" nicht auch Chancen? Die Gläubigen einer fusionierten Riesengemeinde träfen sich dann sonntags an einem zentralen Ort und merkten wieder, dass sie viele sind!

Maicher: Aber für die älteren Leute wäre das schwierig. Ich habe heute mit einer Frau geredet, die zwar unter dem geringen Gottesdienstbesuch leidet, aber mir gesagt hat: Sie würde nie zum Gottesdienst in einen anderen Stadtteil gehen, selbst wenn wir Fahrgemeinschaften anbieten würden!

Das ist auch eine Einstellungsfrage.

Maicher: Ja, aber ich fürchte, dass wir die Leute auf diesem Weg verlieren könnten: Denn die Protestanten haben ein anderes Verhältnis zum Kirchgang als etwa die Katholiken. Das höre ich oft, wenn ich Geburtstagsbesuche mache. Den Evangelischen ist ihre Konfession sehr wichtig: "Um Gottes willen nicht katholisch werden!" Aber zugleich heißt es: "Zum Gottesdienst gehen, mich engagieren – das brauche ich nicht."

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Was empfinden Sie, wenn Sie so etwas hören?

Maicher: Ich denke immer: Schade! Aber ich beiße mir auf die Zunge. Diese Leute würden nie austreten. Sie lesen wohlwollend den Gemeindebrief. aber sie suchen nicht die Gemeinschaft. Es würde sie allerdings beunruhigen, wenn es die Kirche hier nicht mehr gäbe.

Und diese Leute sehen nicht, dass die aktuellen Nöte der Gemeinden auch etwas mit ihnen zu tun haben könnten?

Maicher: Nein, denn sie meinen: Sie sind ja in der Kirche! Vielleicht hat das zu tun mit einer seltsam anachronistischen Denkweise, die mir hier in unserer Arbeiterstadt immer wieder begegnet: "Kirche ist nichts für die kleinen Leute!" Obwohl das ja nicht stimmt. Viele kirchenferne Protestanten sind sich selbst genug. Dieser Individualimus ist ein großes Problem.

Lassen Sie uns 30 Jahre in die Zukunft springen: Welche Kirche wünschen Sie sich für das Jahr 2043?

Maicher: Ich hoffe, dass unsere protestantische Kirche eine einladende Kirche sein wird, in der alle Generationen und Schichten versammelt sind – auch Menschen mit familiären Wurzeln in Afrika oder dem Iran. Ich hoffe, dass es eine Kirche ist, die die Schwachen im Blick behält. Die tolerant, aber nicht beliebig ist und sehr wohl weiß, wo sie herkommt. Und ich hoffe, dass sich unsere Kirche ihre wohltuende Freiheit erhält: eine Freiheit, die nicht einengt!