Mauern, die den Frieden sichern (sollen)

Friedensmauer in Belfast
Foto: imago/ecomedia/Robert Fishman
Die Friedensmauer an der Shankill Road in Belfast trennt ein katholisches und protestantisches Wohnviertel.
Mauern, die den Frieden sichern (sollen)
Ein Überblick über Hintergründe des Nordirland-Konflikts
30 Jahre lang herrschten in Nordirland bürgerkriegsähnliche Zustände: Es gab Bomben- und Brandanschläge, mehr als 3.600 Tote und 47.000 Verletzte. Doch der Konflikt ist nicht neu. Schon seit Jahrhunderten kämpfen Katholiken und Protestanten gegeneinander – ein reiner Glaubenskrieg war es jedoch nie. Es geht um Land, Macht und Unabhängigkeit.

Mehrere Kilometer lang ziehen sich sogenannte "Friedensmauern" oder "Friedenslinien" durch die nordirische Hauptstadt Belfast. An manchen Stellen sind die mit Graffiti besprühten Betonungetüme mehr als sechs Meter hoch. Die Barrieren trennen die Wohngebiete pro-irischer Republikaner und pro-britischer Unionisten. Es gibt sie seit 1969, als der Nordirland-Konflikt eskalierte und es in diesen Gebieten wiederholt zu brutalen Auseinandersetzungen zwischen Republikanern und Unionisten kam.

Oft wird der Nordirland-Konflikt an den Konfessionen der beiden kämpfenden Parteien festgemacht: Katholiken gegen Protestanten. Viele sehen ihn als Religions- oder Glaubenskrieg an, der zeigt, wie Menschen im Namen Gottes und des Glaubens hassen und andere Menschen ermorden. Doch laut Nordirland-Experte Bernhard Moltmann, Assoziierter Wissenschaftler der HSFK (Leibniz Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung), ist diese Erklärung zu einfach und blendet die komplexen historischen, politischen und sozialen Hintergründe des Konflikts aus. "Bei der religiösen Identifizierung handelt es sich nur um einen Marker. Die kollektiven Identitäten werden dort nicht durch gemeinsame Visionen geschaffen, sondern durch Abgrenzung." Und die erfolgt historisch bedingt entlang religiöser Linien.

Gewaltsame Auseinandersetzung auf der und um die irische Insel gibt es aber nicht erst seit der Reformation. Schon seit dem 12. Jahrhundert versuchen die Engländer, Macht und Kontrolle über das irische Eiland auszuüben – gegen den erbitterten Widerstand der irischen Bevölkerung. Es kam also schon vor der Abspaltung von der römisch-katholischen Kirche zu Auseinandersetzungen. Ab 1609 entschlossen sich die britischen Herrscher, Irland mit Protestanten aus England und Schottland zu besiedeln. Die irische Bevölkerung wurde zugunsten der protestantischen Neuankömmlinge enteignet, später folgte die systematische Unterdrückung der Iren durch die sogenannten "Penal Laws". Diese Gesetze verboten Katholiken zum Beispiel, Schulen oder Universitäten zu besuchen oder an ihnen zu lehren, öffentliche Ämter zu bekleiden, Waffen zu tragen oder ihren Glauben auszuüben. Hier liegt der Grundstein für die sich in den folgenden Jahrhunderten fortsetzenden blutigen Kriege, in denen katholische Iren für ihre Freiheit von England kämpften.

Von 1919 bis 1921 führten die Iren einen Unabhängigkeitskrieg, der mit der Teilung der Insel und der Gründung des Freistaats Irland im Süden und Nordwesten endete. Die sechs mehrheitlich protestantischen Grafschaften in Teilen der nordöstlichen Provinz Ulster hingegen verblieben im Vereinigten Königreich – mit eingeschränkter Autonomie, aber einem eigenen Parlament und einer Regierung. "Die Protestanten wollten weiterhin eine Bindung ans Vereinigte Königreich, die katholische Bevölkerung hingegen wollte nicht hinnehmen, dass die Insel geteilt wird", erklärt Moltmann.

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1937 gab sich der Freistaat eine neue Verfassung, 1949 folgte die offizielle Proklamation der Republik Irland, während Nordirland im Vereinigten Königreich verblieb. Durch die Teilung wurde die Situation einer doppelten Minderheit zementiert. Bis heute bilden in ganz Irland die Protestanten zwar die Minderheit, in Nordirland hingegen sind die Katholiken in der Minderheit. "Sie wurden rechtlich, sozial und wirtschaftlich benachteiligt. Ihnen wurde über Jahre die politische Teilhabe verweigert und sie waren zum Teil sogar steuerlich schlechter gestellt als die Protestanten", erläutert Bernhard Moltmann. Im Zuge der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Ende der 1960er Jahre fing auch die katholische Minderheit in Nordirland an, gegen diese Diskriminierung zu demonstrieren. "Die folgenden Protestmärsche von Katholiken wurden jedoch von der Polizei und den örtlichen Behörden gewaltsam niedergeschlagen", so Moltmann.

Zur Eskalation kam es dann am 12. August 1969, als Protestanten in Derry/Londonderry einen katholischen Stadtteil stürmten und die katholischen Bewohner provozierten – zwei Tage lang lieferten sich die Anwohner mit den Protestanten und der Polizei Straßenschlachten. Es kam zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen: katholische Straßenzüge wurden von den pro-britischen Loyalisten niedergebrannt, Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben (fünf Mal mehr katholische Familien als protestantische) und die Stadtviertel wurden in "katholisch" und "protestantisch" aufgeteilt. Da der nordirische Premierminister der Lage nicht Herr wurde, rief er die britische Armee zu Hilfe. "So lange es ging, hat London versucht die Unruhen zu ignorieren. Und dann sind sie mehr oder weniger dazu gezwungen worden zu reagieren", sagt Moltmann. Anfangs wurden die Soldaten von der katholischen Minderheit als Schutz gegen den wütenden Mob und die Polizeiwillkür angesehen, doch schnell schlug die Stimmung um, da es keine politischen Lösungsansätze gab.

Dr. Bernhard Moltmann vom Leibniz Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

Traurige Höhepunkte des Konflikts waren der sogenannte "Bloody Sunday" und der "Bloody Friday". Am 30. Januar 1972 erschossen britische Fallschirmjäger bei einer friedlichen Demonstration gegen die britische Internment-Politik (Bewohner katholischer Viertel durften aufgrund des bloßen Verdachts, Teil der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) zu sein, festgenommen werden) insgesamt 14 Menschen und verletzten 15 weiteren. "Die Gewalt eskalierte immer weiter und so entschied sich die britische Regierung, das nordirische Parlament aufzulösen und das Land von London aus zu regieren", so Moltmann. Das was das Ende der über 50 Jahre anhaltenden Selbstverwaltung – aber nicht das Ende der Gewalt. Denn den "Blutsonntag" beantwortete die IRA dem "Blutfreitag": am 21. Juli 1972 explodierten in Belfast innerhalb von weniger als zwei Stunden nach unterschiedlichen Angaben zwischen 19 und 22 Bomben. Dabei wurden neun Menschen getötet und 130 verletzt, zwei weitere erlagen später ihren Verletzungen.

In den 1990ern kam schließlich Bewegung in die Friedensbemühungen, und am 10. April 1998 unterzeichneten Repräsentanten der nordirischen Parteien sowie der britische und irische Premierminister ein Friedensabkommen ("Karfreitagsabkommen" oder "Belfast-Abkommen"). Es bestand aus einem zwischenstaatlichen britisch-irischen Vertrag und einer Übereinkunft unionistischer und nationalistischer Parteien. Das Abkommen wurde sowohl von der Bevölkerung in Nordirland als auch in der Republik Irland in Referenden angenommen. Es legte unter anderem die Bildung einer gemeinsamen unionistisch-nationalistischen Regierung, die Entwaffnung der paramilitärischen Verbände und eine Amnestie für deren Angehörige, sowie den Abbau der britischen Militärpräsenz fest. "Bis 2000 sind mehr britische Soldaten in Nordirland stationiert gewesen als im folgenden Irak-Krieg", zeigt Bernhard Moltmann auf. Die tatsächliche Entwaffnung und Entmilitarisierung lief jedoch deutlich schleppender, als es eigentlich schriftlich vereinbart worden war.

"Während des Nordirland-Konflikts haben sich die Kirchen weitgehend rausgehalten und nicht versucht, Partei zu ergreifen", erklärt Moltmann. Es gebe jedoch auf beiden Seiten Christen, die sich entweder als Scharfmacher und Hetzer verstünden oder als Friedenstifter. Allein an der Religionszugehörigkeit sei die Haltung nicht festzumachen. "Einzelne Kirchenleute vermitteln und haben sich mit der Zeit ein großes Maß an Glaubwürdigkeit verdient. Sie wollen gerade angesichts der politischen Ohnmacht Opfern helfen, weil es für sie ein Zeichen der Nächstenliebe ist."

Unionistisches Wandbild am Cluan Place vor einer Friedensmauer in Belfast erinnert an protestantische Opfer des Bürgerkriegs in Nordirland.

Innerhalb des 30 Jahre dauernden Konflikts kamen mehr als 3.600 Menschen durch politisch motivierte Gewalt ums Leben und über 47.000 wurden verwundet. Es gab circa 16.200 Bombenanschläge, 22.000 bewaffnete Überfälle und 2.200 Brandanschläge in dieser Zeit. "In den zwei Jahrzehnten seit dem Friedensabkommen ist der Konflikt eingefroren, aber nicht gelöst worden", erklärt Moltmann. Das Gewaltniveau sei zwar zurückgegangen und der Alltag der Menschen habe sich verbessert, doch lebe man trotz allem immer noch nicht friedlich miteinander, sondern nebeneinander. "Die Beteiligten haben sich in eine "wohlwollende Apartheid" zurückgezogen – mit Mauern zwischen Wohngebieten", urteilt er. Diese sind in den Jahren nach dem Friedenabkommen mehr statt weniger geworden und erfreuen sich in der Bevölkerung einer gewissen Beliebtheit. So besagt eine Studie aus dem Jahr 2012, dass 69 Prozent der Bewohner der Meinung sind, die Mauern seien immer noch nötig angesichts möglicher Gewaltausbrüche. Seit 2013 gibt es immerhin den Plan, die Friedenlinien und -mauern innerhalb von zehn Jahren zu beseitigen

Und jetzt droht der Brexit alles zu zerstören, wofür in den vergangenen 20 Jahren so hart gearbeitet und gekämpft wurde. Im politischen Leben Nordirlands herrscht Stillstand: Seit Januar 2017 funktioniert die gemeinsame Exekutive nicht mehr, und die Legislative ist seit den Neuwahlen im März 2017 inaktiv. "Es geht in der nordirischen Politik oft um Besitzstandswahrung: alle Seiten haben Angst, sie könnten etwas verlieren. Die Protestanten sehen sich in einem Belagerungszustand und reagieren hinhaltend, ohne eigene Ideen", sagt Moltmann. Im Augenblick wird das Land wird von Beamten unter Aufsicht einer britischen Ministerin verwaltet. Über die Lösung der Nordirland-Frage müssen sich die EU, die Republik Irland und Großbritannien bei den Brexit-Verhandlungen noch viele Gedanken machen – denn zurück zu den früheren Zuständen kann eigentlich niemand wollen.