"Eine Schule für alle"

Lehrerin Friedrike Schwier in der "Baustille"
Foto: Stefan Korinth
Lehrerin Friedrike Schwier in der "Baustille", einem weißen Bauwagen, der als Raum dient, um zur Ruhe zu kommen.
"Eine Schule für alle"
Zu Besuch in der Evangelischen Integrierten Gesamtschule (IGS) in Wunstorf (Niedersachsen)
Eine Schule - alle Abschlüsse vom Förderschulabschluss bis zum Abitur. Das ist an der Evangelischen IGS in Wunstorf möglich. Dort sind nicht nur alle Religionen willkommen, sondern auch Schüler mit Unterstützungsbedarf. Für die Schule wurde sogar Kirchenrecht geändert.

135 Fünftklässler sind plötzlich ganz leise. "Folgt dem Klang der Schale", sagt Schulpastorin Franziska Oberheide und schlägt mit einem hölzernen Klöppel gegen die Messingschale in ihrer Hand. Die meisten Kinder schließen die Augen und lauschen dem langsam leiser werdenden Ton. In wohl nur wenigen Situationen gelingt es, so schnell so viel Ruhe und Besinnlichkeit in eine derart große Kindergruppe zu bringen wie hier in der wöchentlichen Morgenandacht der Evangelischen IGS in Wunstorf bei Hannover. Nur die Baufahrzeuge draußen stören noch ein wenig die Stille.

Die Andacht zu Beginn der dritten Stunde dienstags ist fester Bestandteil des Stundenplans der Fünftklässler. Jeder Jahrgang feiert solch eine gemeinsame Andacht wöchentlich. Nach dem Eröffnungslied, begleitet von einer Lehrerin auf dem Keyboard, erzählt die Schulpastorin die Geschichte von einem Mädchen, das zu seiner Leidenschaft für Tischtennis steht, obwohl ihre Freundinnen den Sport total peinlich finden. "Um seinen Nächsten lieben zu können wie sich selbst, muss man sich selbst erstmal kennen", sagt Franziska Oberheide den Kindern. "Man muss dazu stehen, wer man ist."

Das kann und darf hier jeder, denn die Integrierte Gesamtschule ist "eine Schule für alle", wie Direktorin Elke Helma Rothämel erläutert. Anders als der Schulname vermuten lässt, lernen an der Evangelischen IGS nicht nur evangelische Schülerinnen und Schüler. Lediglich etwas mehr als 40 Prozent der Kinder sind getauft, gut zehn Prozent sind Muslime, es gibt einige Bahai und Angehörige weiterer Religionen.

An den christlichen Gottesdiensten nehmen trotzdem alle teil. Andersgläubige müssen dabei zwar nicht aktiv mitmachen, aber sie sehen so den Unterschied zu eigenen Gottesdienstformen, sagt Rothämel. "Wir wollen hier Offenheit im interreligiösen Dialog erreichen."

Religiöse Verwandtschaft

In der Schule gibt es verpflichtende Gottesdienste zu allen großen Feiertagen, aber auch freiwillige Gottesdienste, für die sich die Schulklassen bewerben. Der Religionsunterricht ist verbindlich. Doch ist es den Schülern und Eltern möglich zwischen katholischem, evangelischem und islamischem Religionsunterricht zu wählen. "Für uns wurde extra das Kirchenrecht geändert", betont die Direktorin. Erst so war es möglich den Lehrer für Islamischen Religionsunterricht, einen Moslem, kirchlich anzustellen.

 Schulpastorin Franziska Oberheide im Andachtsraum.

Direkt im Anschluss an die Andacht gibt Schulpastorin Oberheide Religionsunterricht in der Klasse 5d. Hierfür ist noch ausreichend Zeit, denn die meisten Unterrichtsstunden an der Evangelischen IGS dauern 60 Minuten. Den neuen Rhythmus hat die Schule vor zwei Jahren eingeführt. Er ermöglicht kontinuierlicheres Lernen und sorgt für eine Entschleunigung des Schultages, erläutert die Direktorin.

Auch in dieser Religionsstunde geht es um verschiedene Glaubensgruppen und das, was sie verbindet. 19 Kinder im Raum, die an höhenverstellbaren Schultischen in unregelmäßiger Anordnung sitzen, lernen, dass Judentum, Christentum und Islam sich auf den gleichen Stammvater, Abraham, beziehen. Oberheide wirft mithilfe eines Beamers, der in jedem Unterrichtsraum installiert ist, das Bild dreier Jungen an die Wand. Die Schüler erraten Schritt für Schritt anhand der Kleidung, dass diese Kinder Repräsentanten der drei monotheistischen Weltreligionen sind.

In welcher personellen Beziehung ihre jeweilige Religion zu Abraham steht, erklären die drei Jungs auf einem Arbeitsblatt. Schließlich besteht die heutige Aufgabe der Schüler darin, einen kleinen Stammbaum der drei Weltreligionen ausgehend von diesem Stammvater zu zeichnen. Dabei helfen auch drei Schulbegleiterinnen Kindern mit besonderem Unterstützungsbedarf.

Eine bunte Schülerschaft

Die Evangelische IGS ist nicht nur eine Schule für Angehörige verschiedener Religionen. Hier wird in jeder Hinsicht inklusiv gedacht. Es ist die einzige Schule der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, an der alle Abschlüsse vom Abitur bis zum Förderschulabschluss gemacht werden können. "Die Heterogenität unserer Schüler und ihrer Elternhäuser ist riesig", sagt die Schulleiterin.

Der fertige Neubau der IGS Wunstorf.

In jeder Klasse lernen durchschnittlich zwei Schüler mit festgestelltem Unterstützungsbedarf. Dabei handelt es sich um Kinder im Rollstuhl, um Autisten, Hyperaktive oder Schwerhörige. Hier wird jeder ernstgenommen, unterstreicht Rothämel. Bestes Beispiel ist ein elfjähriger Junge, der gerade an ihrer Tür geklopft hat. Er leidet unter einer Lese-Rechtschreibschwäche. An der Grundschule zuvor sagten ihm die Lehrer, er sei nur zu faul, berichtete der Junge. Hier hingegen arbeite man an seiner Schwäche und fördere seine Stärken. Er ist sogar im Schulvorstand aktiv.

In dieser IGS sind jedem Jahrgang ein bis zwei Sonderpädagogen zugeordnet. Anders als an den meistens staatlichen Schulen sind sie Teil des Kollegiums und bilden zusammen mit einem Regelschullehrer Klassenlehrer-Tandems.

Rothämel, die seit 2012 Schulleiterin der Evangelischen IGS ist, hat fast alle Kolleginnen und Kollegen hier selbst eingestellt. 2010 wurde die IGS aus einer Haupt- und Realschule heraus gegegründet, 2011 ging die Schule in die Trägerschaft der hannoverschen Landeskirche über. Seitdem ist sie eine IGS mit Ganztagsangebot. "Man kann ein Kind nur wirklich im Blick haben, wenn man den ganzen Tag Zeit hat", erklärt die Direktorin.

Drei Fragen an Elke Helma Rothämel, Schulleiterin der IGS Wunstorf.

Das Geheimnis guter Schule sind gute Lehrer, schiebt sie nach. Viele Kollegen seien bereit, im ersten Jahr auf Geld zu verzichten, um Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Jeder finde hier hervorragende Arbeitsbedingungen: genügend Zeit, seinen eigenen Schreibtisch und die gute Gemeinschaft unter den Lehrern. Die Pädagogen arbeiten hier fast durchgängig in Teams.

"Evangelische Schule zu sein bedeutet auch, dass, Kollegen sich hier nochmal ganz neu mit theologischen Inhalten und Fragen auseinandersetzten", erklärt sie. Das Menschenbild sei nicht rein auf Leistung aufgebaut. Noten beispielsweise gebe es erst ab Klasse 8, bis dahin geben Lernentwicklungsberichte Auskunft über die Fortschritte der Kinder.

Religion ist in dieser evangelischen Schule nicht allgegenwärtig, aber an vielen Orten sichtbar. Auch an unerwarteten. Auf dem Schulhof steht ein weißer Bauwagen. "BauStille" ist daran zu lesen. Das Wortspiel deutet schon an, dies ist ein Raum, um zur Ruhe zu kommen. Aber auch ein "Ort für Beziehungsarbeit", erläutert Friederike Schwier, Lehrerin für Deutsch und Gesellschaftslehre.

Ausgedehnte Pausenzeiten zur Entspannung

Gemütlich ist es hier. Am Boden liegen Teppiche und Kissen. Bis zu zehn Kinder dürfen gleichzeitig hinein. Und auch dieser Raum ist christlich geprägt: Am einen Ende steht ein kleiner Altar mit Kreuz und Kerzen, am anderen Ende eine kleine Sitzecke mit Buchregal, inklusive verschiedener Bibeln. Der Wagen ist ein Gemeinschaftsprojekt von Schule und dem Kirchenkreis Neustadt / Wunstorf und dient seit knapp drei Jahren als Raum der Stille.

Zeit für all das bleibt, weil neben den Unterrichtsstunden auch die Pausenzeiten ausgedehnt wurden. "Wir haben viel über den Zeitrhythmus nachgedacht", sagt Schwier. Es sei sehr wichtig, dass die Schüler zwischen den Phasen der Anspannung auch ausreichende Phasen der Entspannung erhielten. Die Mittagspause ist mit einer Stunde nun doppelt so lang wie zuvor.

Es handelt sich nicht zufällig um einen Bauwagen, denn die Schule wird seit Jahren erneuert. Der (rollstuhlgerechte) Neubau ist schon bezogen, das mehr als 40 Jahre alte Schulgebäude wird noch saniert. Ende 2018 soll hier alles fertig und beide Gebäudeteile miteinander verbunden sein. Der Bauwagen wird auch danach bleiben, nur die Baufahrzeuge verschwinden. Dann wird es bei der Andacht auch wieder völlig still.