Historiker kritisiert lückenhafte Erinnerung an NS-Verbrechen

Ein Opfer von Hunger und Typhus im Warschauer Ghetto
Foto: epd-bild / akg-images
Ein Opfer von Hunger und Typhus im Warschauer Ghetto, dessen eingemauerter Bezirk ein Sammellager für das nahe gelegene Vernichtungslager Treblinka war. Gedenkstätten wie diese werden "nur auf Antrag, ausnahmsweise und mit minimalen Summen gefördert".
Historiker kritisiert lückenhafte Erinnerung an NS-Verbrechen
Schon unmittelbar nach der Machtergreifung 1933 begannen die Nationalsozialisten mit der Verfolgung von politischen Gegnern, Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, "Asozialen" und "Erbkranken". Später traf es auch Kriegsgefangene und Zivilisten der vom Deutschen Reich besetzten Länder. Viele dieser Opfer-Gruppen werden dem Historiker Stephan Lehnstaedt zufolge marginalisiert.

Der Historiker Stephan Lehnstaedt sieht erhebliche Lücken in der deutschen Gedenkkultur zu den NS-Verbrechen. Das "Erinnerungsnarrativ in Politik und Gesellschaft" sei weitgehend auf den Holocaust beschränkt, betonte der Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am Touro College Berlin in einem Gastbeitrag im Berliner "Tagesspiegel" (Montag). Manchen anderen Gruppen komme "zumindest eine marginale Rolle zu", andere seien letztlich gar nicht präsent.

"Kaum jemand spricht etwa über ethnische Polen, über sowjetische Kriegsgefangene oder nichtjüdische Zivilisten aus den diversen Sowjetrepubliken, die die Deutschen ermordeten", schrieb Lehnstaedt. Viel zu wenig bewusst sei, dass in Europa im Grunde nur ethnische Deutsche, die dem Nationalsozialismus nicht ablehnend gegenüberstanden, von Verfolgung verschont blieben - "also die überwältigende Mehrheit der Vorfahren der heutigen Deutschen".

Die oft rituell beklagten "vergessenen Opfer" seien tatsächlich Millionen von Menschen. Die Stätten ihrer Ermordung lägen fast ausschließlich im östlichen Europa. Dort aber seien sie für die Deutschen "aus den Augen und aus dem Sinn", betonte der Historiker und erklärte weiter: "Wir veranstalten ein Holocaust-Gedenken light, das viel günstiger ist: Lediglich Auschwitz und Yad Vashem erhalten kontinuierlich Bundesmittel." Aber schon die in Polen gelegenen Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt"- Belzec, Sobibor und Treblinka -, wo deutsche Täter etwa 1,8 Millionen Juden ermordeten, würden "nur auf Antrag, ausnahmsweise und mit minimalen Summen gefördert".

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Ferner kritisierte der Historiker, dass die Politik Gedenkstätten immer neue Aufgaben aufbürde, "insbesondere bei der Erziehung Jugendlicher - die Vorstellung, zwangsverpflichtete Klassen bei einem Besuch vom Antisemitismus zu kurieren, ist da nur die Spitze des Eisbergs". Lehnstaedt zufolge findet sich in schulischen Lehrplänen immer weniger Zeit für den Nationalsozialismus und für die deutschen Verbrechen. Schüler besuchten historische Orte oft ohne Vorbildung. Auch die Lehrerausbildung zu diesem Bereich sei mangelhaft.