Fünf alte Wege, um Stille neu zu empfangen

Wege in die Stille
Foto: Daniel Sikinger
Wer sich drauf einlässt, kann die Kraft der Stille vielerorts erfahren.
Fünf alte Wege, um Stille neu zu empfangen
Wie wir vom Reichtum der christlichen Tradition das Stillwerden lernen
Wenn sich das Jahr dem Ende neigt, dann werden die Tage kürzer – nicht aber zwingend weniger hektisch. Dabei ist es nicht nur unser Umfeld, das unruhig ist, wir sind es auch innerlich. Wie kann man da anhalten und in die Stille finden? Die christliche Tradition kennt viele Wege.

Katholiken, aber auch Reformierte, Lutheraner und Freikirchler sind ihrer Sehnsucht nach Stille gefolgt, Menschen aller Denominationen. Damals wie heute haben sie die Stille gesucht. Es ist eine alte Suchbewegung, aber eine, die in unserem modernen Leben ganz neue Aktualität erhält. Wer sich auf diesen Weg macht, ist also in guter Gesellschaft.

Fünf erprobte Pfade finden

Klar ist aber auch: es gibt nicht nur den einen Weg in die Stille. "Viele Quellen hat der Strom", wie der freikirchliche Autor Richard Foster sagt. Die christliche Tradition ist reich an unterschiedlichsten Meditationsformen. Leider sind sie aber oft verschüttet oder verloren gegangen. Wer seiner Sehnsucht nach Stille folgt, kann sie wiederentdecken. Dabei tun wir gut daran, von anderen Christen zu lernen, welche Wege sie gefunden haben, um in die Stille zu kommen. Fünf dieser Wege werden hier jetzt vorgestellt.

In der Schöpfung: der natürliche Weg

Die rissige Rinde einer Kiefer, das Gurgeln und Plätschern eines Bachs, die zarten Blütenstempel einer Christrose – sie alle sind "große Lehrmeisterinnen der Kontemplation", des Stilleseins vor Gott, so der Jesuitenpater Franz Jalics. Für ihn findet man Stille nicht nur im Kämmerlein, sie zu suchen bedeutet nicht, sich von der Welt abzuwenden. Im Gegenteil, in der Natur können wir Achtsamkeit lernen und unsere Aufmerksamkeit schärfen: weder herbeiwünschen, was sein sollte, noch nostalgisch zurückblicken auf das, was einmal war, sondern schlicht da sein und bemerken was ist.

Im eigenen Körper: der inkarnatorische Weg

Sie waren umstritten, die orthodoxen Mönche, die auf dem griechischen Berg Athos lebten. Sie wollten "das Unkörperliche im Körperlichen zu fassen suchen", so Gregor Palamas, einer von ihnen. Ganz auf den Atem ausgerichtet war ihre Meditation, auf die Bauchmitte zum Beispiel, wie sie sich hob und sank – als Nabelschau schmähten das ihre Kritiker. Die Mönche fanden: Gottes Inkarnation, Gottes Menschwerdung in Jesus ist auch ein Ja zum menschlichen Körper. Das war vor 600 Jahren. Heute geht Barbara Brown-Taylor noch einen Schritt weiter: die episkopale Theologin und Bäuerin ermutigt dazu, vor dem Spiegel zu beten – nackt! So, meint sie, können wir uns einüben in einer wertschätzenden und dankbaren Haltung, anstelle von unserer üblichen Selbstbewertung. Denn wenn wir uns kritisch analysieren, uns selbst vielleicht sogar entschieden ablehnen, dann schüren wir nur unsere innere Unruhe. Ein Ja dagegen umarmt das Jetzt – und lässt uns in unserer Haut zur Ruhe kommen.

Mit einem einzigen Wort — der orthodoxe Weg

Wer zerstreut ist, braucht etwas worauf er sich konzentrieren kann. Möglicherweise war es diese simple Einsicht, die zur Verbreitung der Einwort-Gebete beigetragen hat. Schon die Wüstenväter und -mütter haben sie fortwährend gesagt. Später entstand daraus das orthodoxe Jesusgebet, ein Mantra sozusagen, oft im Atemrhythmus gebetet: Einatmen – Christus, Ausatmen – Jesus. Es  kann aber auch ein anderes "heiliges Wort" sein, meint der Trappist Thomas Keating, der Begründer des Centering Prayer. Und es muss auch nicht ständig wiederholt werden, sondern man kann es auch nur dann benutzen, wenn man gerade abschweift. So oder so, ob Mantra oder heiliges Wort, in jedem Fall gleicht es einem Leuchtturm: das rhythmische Aufblinken am Horizont kann zum Orientierungspunkt im Sturm unserer unruhigen Gedanken werden. Ein Wort mag zwar nicht den äußeren Sturm stillen, kann aber unsere windverwehten Gedanken sammeln.

Durch einen Bibeltext — der schriftbezogene Weg

Man beginnt mit der Lesung: langsam, bedacht, ein paar wenige Sätze genügen. Wo man über einen Satz stolpert, oder wo man angesprochen wird, dort verweilt man – diese Worte liest man immer wieder, wiederholt sie innerlich, kaut sie regelrecht durch. Man fragt sich: Wozu bin ich durch sie herausgefordert, wozu laden sie mich ein. Vielleicht reagiert man darauf mit einem Gebet. Danach die Stille. Traditionell heißt dieser Weg Lectio Divina, göttliche Lesung. Deren Elemente sind Lesung, Meditation, Gebet und Kontemplation. Doch diese vier wollen nicht als lineare Reihenfolge verstanden werden, so der presbyterianische Gelehrte Eugene H. Peterson, sondern eher als Endlosschleife, in der sich alle vier Elemente wiederholen, allerdings in verschiedener Abfolge. Was der Kartäusermönch Guigo II. im Mittelalter systematisierte und evangelische Theologen wie August Hermann Francke in der nachreformatorischen Zeit aufgriffen, erfreut sich heute großer Beliebtheit: Schriftmeditation ist für viele Christen die Meditation schlechthin; die Frucht der Stille wächst für sie am Baum der Lesung. Damit verbindet sich die Erfahrung: Gottes Wort schafft Klarheit in meinem Stimmenwirrwarr, es bringt meine inneren Stimmen zum Schweigen, zumindest für einen Moment.

Mit einem Bild — der künstlerische Weg

Geistlich lesen können wir nicht nur die Bibel, sondern auch eine Skulptur, ein Gemälde oder eine Fotografie, sagt Christine Valters Paintner. Visio Divina, göttliches Beschauen, nennt das die katholische Künstlerin in Anlehnung an die Lectio Divina. Man wählt ein Kunstwerk – etwas, das vielleicht eigenartig zu schimmern scheint, dass vielleicht mein Inneres zum Schwingen bringt. Dann lässt man die Augen darüber wandern, über die gesamte Landschaft von Farben, Formen und Konturen. Wo das Auge an etwas haften bleibt, da verweile ich. Wie bei der Lectio Divina meditiert man darüber, kaut es durch, reagiert auf dessen Ansprache. Ziel ist es nicht, eine kunstkritische Übung daraus zu machen: es geht nicht darum, das Kunstwerk zu analysieren oder zu bewerten. Es geht um eine wertschätzende Haltung, um ein Sehen mit den Herzensaugen. Wenn ich mich auf diesen Weg mache, kann ich den Ruf in die Stille hören – nicht nur in der Bibel, auch in der Kunst ist er zu vernehmen. Es ist ein Weg des Stillewerdens mit wachen, offenen Augen.

Stille als Geschenk – wenn Licht durchs Fenster fällt

Von dem Weg oder den Wegen in die Stille zu sprechen, das suggeriert: man müsse nur einen, zwei, drei Schritte gehen, ein wenig links vielleicht, schon kommt man an. Stille finden, also machbar? Nein, sagen uns jene, die vorausgegangen sind. Stille ist ein Geschenk. Sie ist nicht verfügbar. Und doch liegt es gleichzeitig an uns, unsere Hände zu öffnen und empfangsbereit zu sein. Oder wie die anglikanische Poetin, Evelyn Underhill, einmal sagte: wir sind es, die unsere Seelenfenster säubern, aber Gott ist es, der sein wärmendes Licht hindurch scheinen lässt.