Heimat muss man sich schaffen

Heimat muss man sich schaffen
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Heimat muss man sich schaffen
Der Träger des Evangelischen Buchpreises 2017, Jörn Klare, im Gespräch
Jörn Klare ist "nach Hause gegangen" nach Hohenlimburg. An den Ort, in dem er aufwuchs, und den er "aus guten Gründen" verließ, als er erwachsen war. Auf seiner Wanderung von Berlin ins Sauerland stellt er sich und den Menschen, denen er begegnet, immer wieder die Frage: Was ist Heimat? Für das Buch, das aus dieser Wanderung entstand, hat er den Evangelischen Buchpreis 2017 verliehen bekommen. Frank Muchlinsky, Pastor und Redakteur bei evangelisch.de, hat mit ihm bei der Preisverleihung in Wittenberg gesprochen.

Herr Klare, würden Sie sagen, dass Sie ein Experte für das Thema Heimat sind? Kann man Sie zu Vorträgen einladen?

Jörn Klare: Das hab ich schon gemacht. Vorträge habe ich tatsächlich schon gehalten. Die Frage ist natürlich, wie schnell man Experte wird.

Man sagt, wenn man sich 10.000 Stunden mit etwas beschäftigt, wird man zum Meister.

Klare: Na ja, wenn ich alles zusammenzähle: Die Wanderung, viel gelesen. Ich bin 19 Jahre in meiner Heimat aufgewachsen. Ich war mal in Afghanistan vor dem 11. September 2001 als Journalist. Da war ich noch der einzige deutschsprachige Journalist, der durch dieses Land gereist ist. Und dann passierte das mit dem World Trade Center, und plötzlich war ich Afghanistan-Experte. Ich las das dann ständig. Ich glaube, man wird auch dann Experte, wenn ein Experte gesucht wird und gerade kein anderer da ist.

"Man findet überall gute Leute. Selbst in den schlimmsten Gegenden"

Jetzt sind Sie auf jeden Fall mein Experte für Heimat, und weil Sie gerade Afghanistan erwähnten: Das ist ausgesprochen weit weg von Ihrer Heimat, egal ob die nun Berlin ist oder Hohenlimburg. Wird Heimat größer, je weiter man sich von ihr entfernt? Wonach haben Sie sich in der Ferne gesehnt? Nach Hohenlimburg? Nach Deutschland? Europa?

Klare: Als ich das erste Mal mit 19 Jahren in den USA war, kriegte ich urplötzlich so ein positives Gefühl dafür, was es heißt, Europäer zu sein. Sehnsucht nach Hohenlimburg hatte ich eigentlich nie. Vielleicht wird Heimat eher kleiner. Wenn ich sonst so herumgereist bin, war meine Sehnsucht der Küchentisch, mit der Familie, die ich vermisst habe. Ich weiß nicht recht, wenn ich woanders leben müsste, wäre es wohl dieser deutsche Kulturraum, die Sprache, die ich vermissen würde, die ich am besten beherrsche, und in der ich denke und träume. Andererseits habe ich ja auch so eine Weltneugier. Man will rausgehen. Und ich hab es ja auch ganz gut hingekriegt. Durch meine Freiberuflichkeit, durch meinen Beruf, durfte ich ja immer viel reisen und habe dadurch auch durchaus das Gefühl gekriegt, dass letztlich die ganze Welt meine Heimat ist. Man findet überall gute Leute, selbst in den blödesten und schlimmsten Gegenden. Und dann ist es wohl so eine Alterssache, dass ich es mit Ende vierzig wieder etwas genauer und konkreter haben wollte.

Wenn Sie sagen, dass Sie sich nach Ihrem Küchentisch gesehnt haben, fällt mir ein, dass man den ja durchaus mitnehmen könnte. Kann man Heimat mitnehmen, kann man sie verpflanzen?

Klare: Ja, das kann man, muss man auch, wenn man Heimat haben will. Beruflich bin ich völlig ungebunden, aber wir haben eine schöne große Wohnung. Da habe ich mein Arbeitszimmer. Wenn meine Frau mal umziehen wollen würde, würde ich sagen "Ja, guck nur, dass ich ein schönes Arbeitszimmer hab." Ob nun der Küchentisch oder der Schreibtisch die Heimat ausmacht, weiß ich nicht. Ich hatte ja diese Begegnung in Walternienburg mit einem Mann an der Elbe, der sagte, er hätte drei Heimaten. Er ist in Schlesien geboren, das heute zu Polen gehört, ist mit zwei Jahren weg von dort, fühlte sich aber auch in Deutschland noch stark mit seiner schlesischen Heimat verbunden und ging dann nach Walternienburg, weil er ein Wassersportler ist und gern rudert und paddelt. Und der sagte, dass man ihn oft im Dorf fragte: "Wie hast Du es geschafft, hier anzukommen?" Und er sagte: "Heimat muss man sich schaffen. Man muss rausgehen und sich einsetzen." Und dieser Mann hat – ganz wunderbar – vor siebzehn Jahren den ersten Heimatverein in seinem neuen Ort gegründet und auch noch eine Trachtengruppe. Das war beeindruckend und auch erhellend. Es gibt natürlich verschiedene Definitionen von Heimat. Diese Kindheitsprägungen, das was man mit seinem Herkunftsort verbindet, wird man ja nicht los. Aber man kann sich Heimat schaffen.

Diese Art, sich nach dem Ort zu sehnen, an dem man aufgewachsen ist, nennen Sie in Ihrem Buch auch "Zeitweh".

Klare: Ja, Zeitweh. Die Erinnerung an die Vergangenheit ist ja immer auch verklärend. Man geht so zurück und denkt dann: "Irgendwie ist das ja komisch. Es sieht alles noch genauso aus, aber ich bin ja doch nicht mehr 18, und ich ticke nicht mehr wie 18. Ich habe mich mal sehr mit dem Erinnern beschäftigt, weil ich ein Buch über Demenz geschrieben habe und darüber, was Erinnerungen bedeuten. Erinnerte Zeit ist immer eine abgeschlossene und überschaubare Zeit. Dabei, wenn ich genau hinschaue: In meiner Pubertät war überhaupt nichts überschaubar. Da wusste ich eine Zeit lang gar nicht, wo vorne und wo hinten ist. Aber wenn man jetzt so zurückdenkt, dann denkt man: "Ach ja, das kleine Städtchen, das kleine Flüsschen, die sechs, sieben Freunde, die eine Kneipe." Da neigt man einfach zur Verklärung.

"Heimat ist etwas, das weiterzuentwickeln ist"

Dass man sich eine Heimat schaffen kann, leuchtet mir sehr ein. Gleichzeitig frage ich mich: Was geschieht, wenn man seine Heimat nicht freiwillig verlässt? Was, wenn man fliehen muss? Wie steht es dann um diejenigen, die schon vor Ort sind? Kann man auch für andere eine Heimat schaffen?

Klare: Ja, absolut, indem man ihnen anbietet, diesen Ort auch als ihre Heimat zu begreifen, indem man ihnen Mitsprachemöglichkeiten gibt, indem man ihnen ermöglicht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, so dass sie selbst Verantwortung übernehmen können. Da ist ganz entscheidend. Es ist sicherlich eine große Herausforderung, aber man muss dieses Angebot machen. Sonst bleiben die Flüchtlinge außen vor. Auch als selbst Heimatliebender tut man sich keinen Gefallen, wenn die Leute sich fremd vorkommen. Ich sag mal ganz banal: Eine Wiese, die mir gehört, oder ein Ort, den ich als meinen begreife, da verhalte ich mich anders, ich benehme mich auch anders. Anders, als wenn ich mich immer fremd fühle und lieber zum Täter werde, anstatt mich ständig als Opfer zu fühlen. Darum ist es so wichtig, ein Heimatangebot zu machen. Heimat ist etwas, das weiterzuentwickeln ist.

Was für eine Rolle spielt Sicherheit in dem Zusammenhang?

Klare: Ich denke, es geht um Sicherheit im Sinne von Überschaubarkeit: Hier kenne ich mich aus, hier kennt man mich, hier weiß ich ungefähr, wie es läuft. Das Leben ist ja so kompliziert. Darum ist Heimat ja gerade wieder so ein Thema. In Nordrhein-Westfalen gibt es jetzt ganz neu ein Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung. Dahinter steckt das Bedürfnis nach Überschaubarkeit, und wenn ich mich umschaue in der Welt, dann frage ich mich auch: Komme ich mit all den Veränderungen mit? Was ist in 20 Jahren? Und dass man sich darum wünscht: "Ich hätte es doch gern wieder überschaubarer", spielt auch bei mir eine Rolle. Außerdem spielt es eine historische Rolle. Dieser deutsche Heimatbegriff ist durch die Romantik geprägt. Nach der Französischen Revolution und nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wurden aus 300 Vaterländern plötzlich nur noch 40. Es kam zu ganz neuen Strukturen und Ordnungen. Dieses Ideal von Rückzug in so eine Geborgenheit, diese Idealisierung, das kam von den Romantikern. Und das zieht sich bis heute durch. Das gab es immer wieder bei großen Umwälzungen. In der Industrialisierung wurden im deutschsprachigen Raum die Heimat- und Trachtenvereine gegründet. Dass es heute ähnlich ist, kann ich gut nachvollziehen.

Was haben Sie eigentlich nach Ihrer Ankunft in Hohenlimburg gemacht? Vor allem würde ich gern wissen: Was ist nun mit Berlin? Sie wollten ja auch eine Antwort darauf, ob Sie sich in Berlin eine Immobilie kaufen sollten…

(Die Antworten auf diese Frage können Sie hören. Klicken Sie einfach auf die entsprechenden Play-Tasten!)

Wie stehen Sie nach der Wanderung zu Hohenlimburg?

Wie ging es nach der Wanderung in Berlin weiter?
"Ich glaube schon an das Gute"

Lassen Sie mich noch nach dem Preis fragen, den Sie heute bekommen: Der evangelische Buchpreis. Ich weiß, dass Sie reformiert getauft und konfirmiert sind, dass Sie im Posaunenchor gespielt haben. Haben Sie noch eine evangelische Heimat?

Klare: Nein, habe ich nicht. Ich habe schon zweimal den Geisendörfer-Preis bekommen dürfen. Das ist ja auch ein evangelischer Preis. Als Frau Kassenbrock vom Literaturportal mich anrief, sagte sie: "Sie haben ja auch so diese ethischen Themen." Ich würde nicht leugnen, dass eine evangelische Prägung dahinter steckt. Aber ich bin nicht kirchlich angebunden.

Können Sie sich vorstellen, dass das für andere Menschen eine sehr wichtige Heimat ist?

Klare: Ja, das glaube ich unbedingt, mindestens schon einmal sozial als Kirchengemeinde, als Gemeinschaft. Im Kontext von "ewiger Heimat" sicherlich auch. Aber da wird es mir schon ein bisschen fremd. Ich glaub ja an das Gute. Ich kriege das nicht hintereinander. Mir hat mal eine Pastorin in einem Gespräch anlässlich des Begräbnisses meiner Mutter gesagt: "Sie sind nicht kirchlich religiös." Vielleicht bin ich schon religiös, ich bin nur nicht an die Kirche gebunden.

Die evangelische Kirche hat ja keine Heiligen, aber wir gucken nach Menschen, die Gutes sagen und tun. Da passen Sie schon ganz gut rein als Vorbild.

Klare: Sie meinen mich? Das sind doch solche Leute, die ich suche, wenn ich auf der Welt herumreise. Vielleicht sollte ich dem mal nachgehen, dem Evangelischen in mir.

Ihre Bescheidenheit ist sicherlich auch eine evangelisch sehr geschätzte Tugend. Was ich an Ihrem Buch besonders genossen habe ist, wie Sie mit den Leuten umgehen, die Sie treffen: Wer auch immer darin vorkommt, kann das lesen, ohne sich bloßgestellt zu fühlen.

Klare: Danke, das ist mir sehr wichtig. Man hat ja schon eine Macht, und manchmal ist es auch sehr verführerisch, da nochmal einen Gag rauszuholen.

Zum Abschluss noch dies: Ich bin ja Pastor, deswegen habe ich, wenn ich schreibe, immer etwas im Kopf, was ich will, was die Leute anschließend tun. Darum: Was sollen die Leute, die ihr Buch gelesen haben, anschließend tun?

Klare: Nach Hause gehen (lacht). Das könnte man falsch verstehen. Ich hatte nicht den Impetus, dass man von mir lernen soll. Ich glaube aber, dass es sinnvoll und angebracht ist, sich mit dem Thema Heimat zu beschäftigen. Das ist etwas Wichtiges und Schönes, und politisch darf man diesen Begriff auch nicht den Falschen überlassen. Außerdem finde ich es wichtig, dass man selbst Verantwortung übernimmt vor Ort. Das kann etwas ganz kleines sein wie der Blumenkübel vor dem Haus, den man bepflanzt. Oder dass man sich einsetzt für das, was vor sich geht, indem man sich für den Park vor der Tür einsetzt, dass er für alle Leute nutzbar ist. Solche kleinen Sachen finde ich wichtig.

(Dieser Beitrag erschien zuerst am 1. September 2017 auf evangelisch.de)