Mitgliederschwund in evangelischer Kirche gebremst

Gottesdienstbesucher in der evangelisch-lutherischen Marktkirche in Hannover
Foto: epd-bild/Jens Schulze
Gottesdienstbesucher in der evangelisch-lutherischen Marktkirche in Hannover.
Mitgliederschwund in evangelischer Kirche gebremst
Aus diesen Gründen bleiben Menschen in der Kirche oder treten aus
Sind Sie Mitglied in der evangelischen Kirche? 21,92 Millionen Menschen beantworteten bis Ende 2016 diese Frage mit "Ja". Das sind zwar weniger als noch 2015, aber das liegt nicht ausschließlich an den Kirchenaustritten.

"Wer heute einer christlichen Kirche angehört, entscheidet dies in völliger Freiheit", so ein Sprecher der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Diese Freiheit beanspruchten bis zum 31.12.2016 rund 21,92 Millionen Menschen für sich, die einer der 20 Gliedkirchen der EKD angehörten. Damit ist die absolute Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder um knapp 350.000 Menschen gesunken. 2015 hatten die Landeskirchen noch rund 22,27 Millionen Mitglieder, litten aber auch in dem Jahr schon unter einem Verlust von 360.000 Menschen.

Die katholische Deutsche Bischofskonferenz teilte mit, dass sie Ende 2016 rund 23,58 Millionen Mitglieder hatte und der Rückgang ungefähr 180.000 betrug. Für die katholische Kirche erklärte der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Pater Hans Langendörfer: "Wir werden weniger, aber wir verlieren nicht unsere Aufgabe und unsere Anliegen. Menschen, Gesellschaft, Staat brauchen die Kirche."

Der offiziellen Statistik der EKD zufolge ist die Anzahl der Kirchenaustritte von 210.000 im Jahr 2015 auf 190.000 im abgelaufenen Kalenderjahr gesunken. Das bedeutet eine kleine Trendwende, da in den beiden Jahren zuvor die Zahl der Kirchenaustritte höher lag. Den Zahlen entsprechend gehören jetzt noch 26,7 Prozent der deutschen Bevölkerung einer Gliedkirche der EKD und rund 28,5 Prozent der katholischen Kirche an. Nach Angaben der EKD sind somit inklusive rund drei Prozent anderer Christen rund 58,3 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen Christen.

Das Kirchensteueraufkommen 2016 war so hoch wie noch nie zuvor: die evangelische Kirche erhielt 5,454 Milliarden Euro und die katholische Kirche 6,146 Milliarden Euro. Das sind insgesamt knapp 11,6 Milliarden Euro (2015: 11,46 Milliarden), mit denen die christlichen Kirchen in Deutschland ihre Arbeit finanzieren können. Nach Angaben der EKD setzen sich die Einnahmen wie folgt zusammen: 5,25 Milliarden stammen aus der Kirchenlohn- und einkommenssteuer, 173 Millionen Euro aus der Kirchensteuer auf die Kapitalertragssteuer und 30,2 Millionen aus sonstigen Steuern (z.B. Zuschläge zur Grundsteuer) und dem Kirchengeld. Rein rechnerisch ergibt sich 2016 pro Gemeindeglied damit ein Steueraufkommen in Höhe von 244,00 Euro. Durch die Anbindung der Kirchensteuer als Zuschlag zur Einkommensteuer werden die Mitglieder aber entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit belastet. Gering Verdienende zahlen keine oder nur recht geringe Kirchensteuern, während Besserverdiener entsprechend stärker besteuert werden. Hauptgrund für den Anstieg ist die allgemeine Entwicklung der Löhne und Einkommen und damit auch der Lohn- und Einkommensteuer.

Die Zahl der Christen in den beiden grossen Kirchen in Deutschland ist auch im Jahr 2016 gesunken.

Positiv hebt die EKD außerdem hervor, dass erstmals seit drei Jahren mehr Menschen zur Kirche hinzukamen als austraten: 180.000 Kinder und Erwachsene wurden durch die Taufe Christen in einer der Landeskirchen, 15.000 Menschen traten wieder ein und 10.000 bereits Getaufte kamen von anderen Kirchen. Rund 340.000 Mitglieder seien gestorben.

Im Jahr 2016 hätten "mehr als 99 Prozent der Mitglieder ihrer evangelischen Kirche die Treue gehalten", das sei "Ausdruck einer hohen Verbundenheit", so ein Sprecher der EKD. Welche entscheidede Rolle Verbundenheit und auch Bindung an die Kirche bei der Entscheidung über den Verbleib oder das Verlassen der Kirche spielen, haben die Professoren Ulrich Riegel von der Universität Siegen und Tobias Faix vom Forschungsinstitut "empirica" von der CVJM-Hochschule bei ihren Untersuchungen auch festgestellt. Für das Bistum Essen hatten sie in einem ersten Schritt 3.000 Menschen in einer Onlinestudie nach ihren Kirchenaustritts- oder Verbleibgründen befragt. Anschließend führten sie mit 42 Teilnehmern im Alter von Ende 20 bis Anfang 70 noch intensive, 40 bis 70-minütige Interviews, in denen die persönliche Austrittsgeschichte nachgezeichnet wurde. Man müsse sich bewusst machen, dass hinter jeder Zahl eine Geschichte stehe, denn fast niemand, so Faix, trete aus der Kirche aus, weil sie ihm schlicht und ergreifend egal (geworden) sei. "Die Menschen haben sich gefreut, dass da endlich jemand ist, der sich dafür interessiert, warum sie der Kirche den Rücken gekehrt haben. Schließlich ist die Entscheidung vielen nicht leicht gefallen, oft ist diese emotionale Entscheidung das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses", sagt Tobias Faix, der Leiter des Forschungsinstituts "empirica".

"Mir reicht's - ich trete aus"

Der von den 440 ehemaligen katholischen Kirchenmitgliedern am häufigsten genannte Grund war die Entfremdung oder generell fehlende Bindung zur Institution Kirchen. Erst danach folgten Gründe wie die Kirchensteuer, die rückständige Haltung der Kirche, Glaubenszweifel, persönliche Verletzungen und kirchliche Skandale. Doch für die Wissenschaftler war die rein quantitative Bestimmung nicht genug – sie entwickelten anhand der Datengrundlage und der Interviews quasi ein idealtypisches Austrittverhalten. Das beginnt mit der Taufe und einer dann mehr oder weniger funktionierenden Bindung an die örtliche Gemeinde und die Kirche an sich. Wenn dann nach und nach drei der vier folgenden Gedanken zusammenkommen, wird es kritisch: Es tauchen die ersten Glaubenszweifel, die aus ihrer Sicht rückständige Haltung der katholischen Kirche in Fragen des Zölibats oder zum Thema Frauen fällt auf, man bemerkt eine ethische Diskrepanz zwischen den eigenen Vorstellungen und denen der Kirche, zum Beispiel zum Thema Homosexualität, oder das Erscheinungsbild der Kirche in der Öffentlichkeit, erschüttert durch Skandale, wird näher unter die Lupe genommen. Wenn dann schon drei dieser Gedanken auf eine emotionale, geistliche oder strukturelle Entfremdung treffen, braucht es nur noch einen Anlass, der das "Fass zum Überlaufen bringt". Das kann dann eine persönliche Enttäuschung sein oder die Kosten-Nutzen-Rechnung, die von dem Gedanken motiviert wird "dafür soll ich zahlen?!". "Und dann kommen wir am Endpunkt, dem Kirchenaustritt, an. Da sagen die Menschen dann: "Mir reicht's - ich trete aus"", so Faix.

Der erfolge, so die Studien der vergangenen 20 Jahre, die Faix und seine Kollegen analysiert haben, vermutlich auch bei evangelischen Christen aus ähnlichen Gründen. Deswegen rät Faix den Kirchengemeinden, prophylaktisch gegenzusteuern: Entscheidend sei die Bindung der Menschen an die Gemeinde und damit an die Kirche, die vor allem über den persönlichen Kontakt erfolge. "In Zeiten, in denen immer mehr Gemeinden zusammengelegt werden und Pfarrer immer mehr Gläubige betreuen müssen, sollte man darüber nachdenken, wie man das strukturell oder durchs Ehrenamt auffangen kann", so Tobias Faix. Außerdem sei es für dich Kirche wichtig, ihre Aushängeschilder deutlicher mit der Kirche in Verbindung zu bringen: Die Diakonie habe ein grundpositives Image bei den Menschen, werde von den meisten aber nicht mit der Kirche in Verbindung gebracht. Neben den persönlichen Identifikationsfaktoren fragt sich Faix aber auch, mit was sich die Menschen in der evangelischen Kirche als Ganzes identifizieren könnten.

Um in diesen Bereichen tiefergehende Aussagen für die evangelische Seite treffen zu können, ist derzeit und in den kommenden Wochen ein Fragebogen online, in dem sich evangelische und katholische Christen dazu äußern können, warum sie aus der Kirche ausgetreten sind oder warum sie noch in der Kirche bleiben. "Es geht uns nicht um Kirchen-Bashing", sagt Faix, "sondern darum, einen Lernprozess anzustoßen." Deswegen sei es eben auch wichtig zu erfahren, was Menschen in der Kirche hält und bei Zweiflern zu erfahren, was sie halten würde. Die zentrale Erkenntnis der bisherigen Studie bringt Tobias Faix auf den Punkt: "Es ist nie ein Grund allein, der zum Kirchenaustritt führt."