Die Revolution der weißen Mäuse

Foto: Getty Images/Thomas Northcut
Die Revolution der weißen Mäuse
Unternehmen fürchten, zu einer Waffe zu werden und Menschen, dass ihre Existenz ruiniert wird: Die Möglichkeiten im Internet haben sowohl unsere Kommunikation, als auch unser Zusammenleben verändert. Wir brauchen neue Regeln für den Umgang miteinander. Wie sollen sie aussehen? Und wer ist verantwortlich? Bei einer Veranstaltung in Berlin hat sich die Medienarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gemeinsam mit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) auf die Suche gemacht.

Hannes Grassegger hat vergangene Woche in San Francisco ein Unternehmen besucht, das befürchtet zur Waffe zu werden. Das Militär, erzählt er den Besuchern der Veranstaltung "Hasse deinen Nächsten wie dich selbst?", beobachte genau, wie die Existenzen von Menschen über ihre digitalen Spuren im Netz systematisch ruiniert werden können. Grassegger, Reporter und Ökonom, will darüber aufklären.

Es geht nicht nur um Facebook, aber mit 1,9 Milliarden Nutzern ist sie nun mal die größte soziale Plattform des Internets und sei deshalb der beste Aufhänger, um über digitale Rechte und Regeln zu sprechen, findet Hannes Grassegger. Die soziale Plattform Facebook existiert seit dem Jahr 2004. Es geht dort nicht um Informationen, sondern um Beziehungen und Emotionen. "Es bilden sich dort emotionale Kreisläufe, weil ein Algorithmus bestimmt, wer welche Nachrichten und Posts zu sehen bekommt", erklärt Grassegger.

Richard Gutjahr, Moderator, Journalist und Blogger hat auf Facebook seinen persönlichen emotionalen Kampf erlebt. Der digitale Hass, der über Facebook und andere Plattformen auf ihn niederprasselte, hat sein vergangenes Jahr bestimmt. Der Grund: Im Juli 2016 wurde er innerhalb von einer Woche Zeuge von zwei Gewaltverbrechen. Während des Anschlags in Nizza stand er auf einem Balkon an der Uferpromenade, er wollte seine Frau und sein sechsjähriges Kind beobachten, die auf dem Volksfest einen Luftballon kaufen wollten. Ein Lastwagen fuhr in die Menschen, 84 starben. Gutjahrs Familie blieb verschont.

Der Sprecher kündigt Gutjahr den Krieg an

Richard Gutjahr hat erst Fotos vom Abendhimmel gemacht. Doch als der Lastwagenfahrer die Menschen tötete, filmte er. Seine Videos überließ er der ARD. Er arbeitet in München für den Bayerischen Rundfunk.

Sieben Tage später: München, er saß im Auto auf dem Weg zur Arbeit: "Papa, ich bin am Einkaufszentrum am Olympiastadion", rief seine erwachsene Tochter aufgeregt ins Telefon. Sie war zu Besuch bei ihrer Oma, die dort wohnt. Sie verbarrikadierten sich in der Wohnung. Richard Gutjahr fuhr zum Einkaufszentrum, setzte einen Tweet mit Foto ab, informierte, dass geschossen würde. Berichtete wieder.

Zweimal innerhalb von einer Woche im Epizentrum der Gewalt zu sein; für die einen eine unvorstellbare Tragik. Bei anderen löste dieser Umstand Neid und dann Misstrauen aus, veranlasste gar zu Verschwörungstheorien: "Richard Gutjahrs unverschämtes Reporterglück" lautet der Titel eines von Hunderten, wie Richard Gutjahr gezählt hat, youtube-Videos, dass bald auf die Tragödien folgte. "Richard Gutjahr arbeitet für den BND. Wahrscheinlich sogar für den Mossad", erzählt das Video, es zeigt  Bilder seiner Tochter und seiner Frau, beide mit vollem Namen genannt. Einer der Sprecher kündigt Richard Gutjahr den Krieg an.

Es ist nicht das Einzige, das Richard Gutjahr und seine Familie ertragen müssen. Morddrohungen landen in seinem Briefkasten. Facebook-Posts diffamieren ihn und immer wieder seine Frau und erwachsene Tochter. Die einzige Möglichkeit, die Richard Gutjahr hat um sich zu wehren: Er versucht die Wortführer zu identifizieren. Er zeigt sie an. Er fordert Schadenersatz. Doch nicht, weil Geld für ihn dabei herausspringt: Knapp 20.000 Euro hat er bereits in Anwaltskosten und Gerichtsverfahren gesteckt. Er macht es, weil das Schweigen den Hass nicht aufhalten kann. Weil er erlebt, dass die große Mehrheit schweigt. Doch es gibt keinen anderen Weg - bis jetzt.

Richard Gutjahr zu der Frage: Wie wehre ich mich gegen Hatespeech im Internet?

Das Bundesjustizministerium versucht eine bessere Praxis zu finden, wie dem Hass im Netz begegnet werden kann. Mit einem von allen akzeptierten Gesetzesvorschlag rechne keiner, sagt Gerd Billen, Staatssekretär im Bundesjustizministerium. Doch das etwas passieren müsse, sei ihm sowie vielen deutschen und europäischen Politikern, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und auch Medienhäusern bewusst: "Die Unternehmen beeinflussen mit ihren Angeboten das politische Klima und können zur Existenzvernichtung von Einzelnen führen. Das führt zu einer sozialen und geistigen Umweltverschmutzung."

Hetz-Videos bei youtube, google oder Facebook anzuzeigen ist fast unmöglich, wie nicht nur Richard Gutjahr erfahren musste. Als er die Überprüfung des hier im Text beschriebenen Videos erreicht hatte, wird es 14 Tage aus dem Netz verbannt. Dann taucht es wieder auf. Und der Verursacher des Videos bekam neben dem Hinweis, dass alles mit seinem Video okay sei, noch Richard Gutjahrs E-Mail-Adresse, mit der Gutjahr die Überprüfung beantragt hatte. Daraufhin produzierte der Verursacher ein neues Video mit Gutjahrs E-Mail-Adresse und dem Aufruf, ihn mit Hass zu überziehen.

Einig sind sich Staatssekretär Billen wie auch andere Gäste des Podiums, wie zum Beispiel Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder und die Vorsitzende der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM), Cornelia Holsten, dass unabhängige Instanzen mit juristischem Sachverstand perspektivisch eine gute strukturelle Möglichkeit böten, bei den IT-Unternehmen die Persönlichkeitsrechte durchzusetzen sowie Hass und Hetze anzuzeigen. Seiten wie Jugendschutz.net zeigen bereits Verstöße an und sind damit erfolgreicher als Privatpersonen: "Ich habe den Eindruck, dass die Firmen besser prüfen, wenn sie merken, dass eine Institution mit Expertise hinter den Anträgen steht", sagt Cornelia Holsten. Als Beispiel nennt sie, dass Anzeigen von Privatpersonen bei Twitter nur zu circa zwei Prozent bearbeitet würden.

"Der Ami versteht nur die Sprache des Geldes"

"Maßgeblich für das Handeln der Unternehmen sind die geltenden Rechte des Strafgesetzes und die Community-Regeln", sagt Gerd Billen. Deshalb sei es wichtig die AGB der Firmen zu ändern: Facebook dürfe löschen, was es möchte - tue dies aber nicht in jedem Fall, wenn es um Persönlichkeitsrechte, um Hass, Verunglimpfung, Hetze, Rassismus und Antisemitismus gehe. Billen fordert deshalb ernstzunehmende Bußgelder für Firmen, die nach Kenntnisnahme nicht handeln und Löschanträge umsetzen.

Johannes Baldauf von der Amadeu Antonio Stiftung hält nicht besonders viel von diesem Vorschlag. Er habe das Gefühl, sagt Baldauf, dass man damit sage: "Der Ami versteht nur die Sprache des Geldes." Dabei gehe es um noch viel mehr als die IT-Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen. "Es geht um den Umgang der Menschen untereinander, es geht um Zivilcourage und um ihre Mündigkeit", sagt er, der seit vielen Jahren über Extremismus und Verschwörungstheorien forscht.

Johannes Baldauf zur Frage: Wie wehre ich mich gegen Hatespeech?

Bahnt sich ein Klassenkampf in der Gesellschaft an? Die Armen, die keine Macht haben über die eigenen Daten zu bestimmen, die Reichen, die sich Privatsphäre kaufen können?

Ökonom Hannes Grassegger sieht Umwälzungen im Zusammenleben der Gesellschaft, wie es sie zuletzt vor 500 Jahren während der Reformation gegeben habe: "Als Martin Luther seine Thesen rausgehauen hat, wurde das Betriebssystem der Katholischen Kirche veröffentlicht. Es gab dann einen Neustart. Am Anfang einer solchen Debatte stehen wir jetzt auch. Deswegen darf man das nicht klein sehen."

Und Gutjahr ergänzt: "Wir sind in einem gigantischen sozialen Experiment, wir sind die weißen Mäuse; wir erleben die Umverteilung der Macht, die sich in unserem Alltag manifestiert. Weg vom Anbieter, hin zum Nachfrager. Das erfordert von jedem von uns ein Stück weit Verantwortung zu übernehmen." Verantwortung, sowohl digital als auch im persönlichen Umgang miteinander.