Viel Nachdenkliches vor dem Reichstag

Eröffnungsgottesdienst vor dem Reichstag
Foto: epd/Thomas Lohnes
Viel Nachdenkliches vor dem Reichstag
In Berlin feiern Zehntausende Protestanten den Auftakt des evangelischen Kirchentages. Der Eröffnungsgottesdienst vor dem Reichstag gibt einen Vorgeschmack auf die Themen der nächsten Tage.

Endlich geht es los. Seit Jahren fiebern die Protestanten in Deutschland diesem besonderen Kirchentag entgegen. Das kirchliche Großtreffen feiert das 500. Reformationsjubiläum in den kommenden vier Tagen gleich an zwei Orten: in Berlin, der Hauptstadt Deutschlands, und zum Abschluss am Sonntag in Wittenberg, der Hauptstadt des Protestantismus. Dort, wo der Reformator Martin Luther (1483-1546) der Überlieferung nach im Jahr 1517 seine revolutionären 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche nagelte.

Seit mehr als anderthalb Jahren laufen die Vorbereitungen für das Protestanten-Großtreffen, knapp 2.500 Veranstaltungen stehen unter dem Motto "Du siehst mich" bis Sonntag auf dem Programm. Über 100.000 Dauerteilnehmer aus aller Welt haben sich angemeldet und werden vorübergehend dem Straßenbild Berlins eine ungewohnt christliche Facette geben.

Die drei Eröffnungsgottesdienste am Mittwochabend ziehen insgesamt 70.000 Gläubige an. Zum zentralen Gottesdienst auf der Wiese vor dem Reichstag kommt auch viel Prominenz aus Kirche und Politik, darunter Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) und das geistliche Oberhaupt der Kirche von England, Justin Welby. Als gegen 18 Uhr die ersten Töne erklingen, hört auch der kurze Nieselregen auf, der Himmel reißt auf und die Sonne beginnt zu scheinen.

"Wir sehen uns - auf dem Kirchentag", so habe er sich in den vergangenen Monaten oft verabschiedet, sagt der Berliner Bischof Markus Dröge in seiner Predigt. Nun gehe es endlich los. Aber trotz aller Freude schlägt Dröge vor der historischen Kulisse des Reichstags, dessen Fahnen wegen des Terrorattentats in Manchester auf Halbmast wehen, in seiner Predigt auch nachdenkliche Töne an.

Dröge: "Es ist ein Wunder, gemeinsam in Frieden hier zu sein"

Der "Ball der Vergangenheit", ein überdimensionierter Erdball mit historischen Bildern aus Berlin, der durch die Reihen getragen wird, führe die wechselhafte Geschichte dieses Gebäudes bildlich vor Augen, sagt Dröge. "Die Zeit zieht an uns vorüber. Zeiten des Krieges, der Trennung, der Not; aber auch Zeiten der Versöhnung und der Freude über die wiedergewonnene Freiheit. Wenn ich das, wie den Ball, an mir vorüber ziehen lasse, dann bin ich zutiefst dankbar."

Auch heute sei der Friede gefährdet. Und es sei ein Wunder, gemeinsam in Frieden hier zu sein zu können, so der Bischof. An diesem historischen Ort werde er nachdenklich und frage sich: "Wo kommen wir her? Wo stehen wir heute? Wo gehen wir hin? Wir als Christinnen und Christen, als Bürgerinnen und Bürger, als Gesellschaft insgesamt?"

Dröges katholischer Amtsbruder, Berlins Erzbischof Heiner Koch, erinnert an die jüngere deutsche Vergangenheit, die evangelische und katholische Kirche in Ostdeutschland mehr als anderswo zusammengeschweißt hat. "Nicht zuletzt unter dem Druck der Herrschenden in der DDR" habe sich ein vertrauensvolles und belastbares Miteinander zwischen den Kirchen entwickelt, sagte Koch in seinem Grußwort. "Wir erleben einander als theologische Anfrage und als geistliche Bereicherung." Warum solle nicht möglich werden, was viele nicht für möglich halten, fragt Koch: "Dass wir wieder eins werden."

Der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, bringt in seinem Grußwort die europäische Dimension in den Kirchentag. Die Europäer müssten zusammenstehen, um allen Tendenzen von Spaltung und Trennung zu widerstehen. "Eine feste Burg ist unser Gott und wir stehen Seite an Seite", sagt Welby.

Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au greift noch einmal das Kirchentagsmotto auf: Sie wünsche sich, "dass wir es in den kommenden Tagen aushalten, uns anzusehen, gerade dort wo es weh tut". Und der Kabarettist Eckhard von Hirschhausen mobilisiert die Gottesdienstbesucher schließlich zum praktischen "Du siehst mich": Jeder solle täglich um 13.29 Uhr Daumen und Zeigefinger zu einem Fernrohr formen und jemanden dadurch anschauen. Es werde sich zeigen, was dann passiert.