Keine "Kandidaten der Kirche" mehr!

Foto: REUTERS/Ueslei Marcelino
Keine "Kandidaten der Kirche" mehr!
Machtkampf in Brasilien: Evangelikale bauen ihren Einfluss in den Parlamenten aus. Das Oberste Wahlgericht will nun den politischen Einfluss von Kirchen zurückdrängen.

Noch ist Brasilien das größte katholische Land der Welt. Doch dem letzten Zensus zufolge verstehen sich inzwischen 22 Prozent der Brasilianer als evangelisch, der Löwenanteil unter diesen sind Anhänger von Pfingstkirchen. Im Gegensatz zu Katholiken wählt die große Mehrheit der Evangelikalen entsprechend ihrer religiösen Zugehörigkeit, wie das Meinungsforschungsinstitut Datafolha am Beispiel von Rio de Janeiro ermittelte. Eine Folge davon ist eine konservative Wende in der brasilianischen Gesellschaft, analysiert der Anthropologe Ronaldo Almeida: "Im Bezug auf die Wirtschaft stärkt dies den Diskurs der individualistischen Unternehmerschaft und des Rückzugs des Staates, in der Art: 'Mach du es selbst, Gott wird dir helfen'", sagt Almeida in der Zeitschrift "Nexo". Und auch in moralisch-ethischen Fragen sind konservative Werte im Kommen.

Denn: In Zeiten der politischen und wirtschaftlichen Krise ist Religiosität in Brasilien generell auf dem Vormarsch. Vor allem aber evangelikale Kirchen, ihre Pastoren oder auch nahestehende Parteien wollen mit ihrem zunehmenden Einfluss nun auch Politik gestalten. Prominentestes Beispiel ist Marcelo Crivella, freigestellter Bischof der Neopfingstkirche Igreja Universal do Reino de Deus (IURD), der seit Jahresbeginn Bürgermeister von Rio de Janeiro ist.

Viele Brasilianer, insbesondere Intellektuelle und fortschrittliche Kreise, bangen um die in der Verfassung festgeschriebene strikte Trennung von Staat und Kirche. Jetzt überlegt das Oberste Wahlgericht (TSE), sich der umstrittenen Frage anzunehmen: Es geht um die Schaffung einer Richtlinie, mit der Kirchen untersagt werden soll, ihre Anziehungskraft bei Gläubigen und ihre ökonomischen Mittel für Wahlzwecke zu nutzen.

Gilmer Mendes, ein eher konservatives Mitglied des Obersten Gerichtshofs und turnusgemäß Vorsitzender des TSE, erläutert den Vorstoß: "Nachdem das Oberste Gericht den Unternehmen Wahlkampfspenden untersagt hat – wer hat jetzt noch viel Geld zur Verfügung? Die Kirchen", sagt Mendes. Hinzu komme der seelsorgerische Einfluss auf viele Menschen. "Ein Prediger kann leicht Tausende in einem Saal versammeln und ihnen mitteilen: 'Dieser ist mein Kandidat.' Wir diskutieren, diese Art von Wahlkampf zu unterbinden", erklärte der TSE-Präsident in der zweiten Märzwoche.

Brasiliens Gesetze verbieten es Kirchen und Religionsgemeinschaften, politisch tätig zu werden. Sie dürfen weder Geld an Kandidaten oder Parteien spenden noch irgendeine Art von Wahlpropaganda betreiben. Auch dürfen Kandidaten auf kirchlichem Gelände keinen Wahlkampf betreiben. Allerdings dürfen Kirchenleute grundsätzlich kandidieren. Dadurch werden die rechtlichen Vorschriften im Alltag meist umgangen: Wenn ein Gemeindemitglied für ein politisches Amt kandidiert, gilt er gleich als "Kandidat der Kirche". Und Prediger machen im Gottesdienst oder in Fernsehsendungen keinen Hehl aus ihrer Unterstützung für bestimmte "Kirchenkandidaten" und ihre Positionen. Diese Praxis kommt zumeist im weit verzweigten Netz evangelikaler Pfingstkirchen vor, und nur selten und weniger direkt in der katholischen Kirche.

Mendes warnt davor, dass die Kirchen ihre ökonomische Macht missbrauchen könnten. Da dies aber schwer nachzuweisen sei, müsse die Justiz aktiv werden. "Nicht auszuschließen, dass eine Kirche ihr Geld benutzt, um die Wahl eines Günstlings zu finanzieren. Oder die Gläubigen werden um Spenden gebeten."

Der Einfluss evangelikal orientierter Politiker in der Hauptstadt Brasilia, aber auch in den Bundesstaaten, steigt kontinuierlich. Schon Linkspräsident Luis Inácio Lula da Silva (2003-2010) überließ das Amt seines Vizepräsidenten dem evangelikalen José Alencar, da er auf Partner für eine Koalition mit seiner Arbeiterpartei PT angewiesen war. Alencar trat wie Crivella im Jahr 2005 einer auf Betreiben der IURD gegründeten Partei bei, die sich heute PRB nennt und den Einfluss dieser Mammutkirche in die Parlamente trägt.

Die parteiübergreifende Fraktion der Evangelikalen ist laut Wahlgericht von 47 Bundesabgeordneten im Jahr 1998 auf 80 beim letzten Urnengang 2014 angewachsen. Bei weitem größer noch ist die Frente Parlamentar Evangélica – eine evangelikale Interessengemeinschaft im Kongress. Ihr gehören mittlerweile 181 Abgeordnete, vier Senatoren und zahlreiche Unterstützer an. Unter der Regierung des rechtsliberalen Michel Temer, der das höchste Staatsamt Mitte vergangenen Jahres nach einem umstrittenen Amtsenthebungsverfahren von der PT-Politikerin Dilma Rousseff übernahm, haben ihre Themen Konjunktur: Abschaffung der erst kürzlich zugelassenen gleichgeschlechtlichen Ehe, Verschärfung des Abtreibungsrechts und eine weitere Aufwertung des Familienbegriffs samt Zurückdrängen von Rechtsansprüchen der LGBT-Gemeinden. Und sie wollen das Verbot politischer Betätigung für ihre Kirchen kippen, ganz in der Art wie US-Präsident Donald Trump dies kürzlich für sein Land ankündigte.