Zwischen Widerstand und Kollaboration

 Kinder beten vor dem Portrait von Maréchal Pétain
Foto: Getty Images/Keystone-France
Kinder beten vor dem Portrait von Maréchal Pétain
Zwischen Widerstand und Kollaboration
Französische Protestanten hatten zwiespältiges Verhältnis zu Hitler
Vor 75 Jahren, am 27. März 1942, verließ der erste Deportations-Zug den französischen Bahnhof Compiègne in Richtung eines NS-Vernichtungslagers. Dieser so genannte Frontstalag 122 war der Beginn der Deportation von europäischen Juden in die Vernichtungslager vom Frühjahr 1942 bis zum Einmarsch der Alliierten 1944. Die Deutschen deportierten im besetzten Frankreich unter Mithilfe französischer Offiziere und Zivilpersonen 76.000 Menschen.

Die französischen Protestanten hatten ein zwiespältiges Verhältnis zu Hitler: Erst 1941 distanzierte sich die Reformierte Kirche Frankreichs offiziell von der Vichy-Regierung (1940-1944), die mit Hitler zusammenarbeitete. Nach einem Bericht des niederländischen protestantischen Pfarrers Willem Visser’t Hooft (1900-1985) stand die große Mehrzahl der französischen Protestanten im Januar 1941 geschlossen hinter Marschall Philippe Pétain (1856-1951), dem Oberhaupt der Vichy-Regierung.

Gründung des Flüchtlings-Hilfswerks Cimade

Französische Protestanten kollaborieren auch mit der Regierung Pétain. Wilfrid Baumgartner (1902-1978) wird General-Direktor der Bank Crédit national. Die Regierung ernennt Maurice Couve de Murville (1907-1999) zum Leiter der Finanzen; bis 1943 arbeitet er in Wiesbaden in der deutschen Waffenstillstands-Kommission. Jacques Barnaud (1893-1962) wird mit den wirtschaftlichen Fragen der französischen Botschaft beauftragt. Auch einen protestantischen Chef-Ideologen bennent Pétain: René Gillouin (1881-1971), den er zunächst als General-Sekretär des Bildungsministeriums vorgesehen hat.

Im September 1939 gründet der Präsident des Dachverbands Bündnis der Protestantischen Kirchen Frankreichs Marc Boegner (1881-1970) gemeinsam mit der Rechtsanwältin Madeleine Barot (1909-1995) und der Theologin Suzanne de Dietrich (1891-1981), das Flüchtlings-Hilfswerk Cimade: Comité inter-mouvements auprès des évacués (= Bewegungsübergreifendes Evakuierten-Komitee). Aus den Tagebüchern Marc Boegners geht hervor, dass er sich erst spät von Pétain distanziert hat. Am 25. Juni 1940 schreibt Boegner nach Anhören einer Ansprache des Marschalls: "Marschall Pétain hat zu den Franzosen heute Abend in einfachen und starken Worten gesprochen. Er hat die Gründe präzisiert, die ihn dazu geführt haben, den Waffenstillstand [mit Hitler-Deutschland] zu verlangen."

Marc Boegner

Wohl erst nach dem Beginn der Deportationen vom März 1942 hat sich Boegner jedoch distanziert: Die Aktivisten der Cimade retten tausenden Menschen das Leben, erkämpfen bei den Behörden deren Ausreise-Genehmigungen in die Schweiz und in die USA, verstecken Verfolgte oder beschaffen ihnen gefälschte Pässe zur Ausreise.

Warum waren aber auch im Inneren Frankreichs so viele Protestanten Kollaborateure?

Als Präsident der Protestanten trifft Boegner Marschall Pétain sechsmal und erhält einen Sitz im Nationalrat der Vichy-Regierung. Der Widerstandskämpfer Pfarrer André Trocmé erinnert sich in seinen Aufzeichnungen, dass selbst spätere Widerstands-Dörfer wie Chambon-sur-Lignon im Juni 1940 fast vollständig hinter Pétain standen: In fast allen Wohnzimmern hing ein Bild Pétains. In Elsass-Lothringen ist das lutherische Dorf Oberhoffen eine Bastion des Nationalsozialismus, ein Grund dafür war, dass sich viele elsässische Protestanten aufgrund guter Deutschkenntnisse mit Deutschland und später mit Hitler-Deutschland verbündeten. Warum waren aber auch im Inneren Frankreichs so viele Protestanten Kollaborateure?

HANDOUT - Dorfpfarrer André Trocmé mit einer Gruppe von Kindern, darunter auch jüdische Flüchtlinge, in Le Chambon-sur-Lignon

Ein Grund dafür ist die Lehre Martin Luthers. Im Jahr 1543 trennt Luther seine Theologie scharf von der jüdischen Messias-Erwartung (Jes 7, 1-16) und nimmt in seiner Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" einen schroffen Tonfall an: "Sie sitzen […] hinter dem Ofen", polemisiert er, "faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, saufen, leben sanft und wohl von unserem erarbeiteten Gut […] sind also unsere Herren, wir ihre Knechte." Luther empfiehlt, die Synagogen niederzubrennen, die Juden in Ställen und Scheunen wohnen zu lassen, ihnen ihre Gebetbücher und Talmudim wegzunehmen, den Händlern das freie Geleit zu entziehen, das Wuchern zu verbieten und ihren Schmuck einzuziehen, dazu sollen die jungen kräftigen Juden mit körperlicher Arbeit ihr Geld verdienen.

Luthers Einstellung: anti-judaistisch

Man muss diese Einstellung klar vom modernen Antisemitismus unterscheiden, Luther begründet sie theologisch, sie ist demnach eher als anti-judaistisch zu bezeichnen: Luther lehnt die jüdische Erwartung ab, eines künftigen Tages werde der Messias kommen und die Frommen in das Reich Gottes führen. Für Luthers, für die Christen, ist der Messias in Jesus schon erschienen. Aus der jüdischen Messias-Erwartung ergibt sich jedoch politisch die Erwartung eines kommenden goldenen Zeitalters: die Frommen sind berufen, an diesem Zeitalter mitzuarbeiten, sich für die Verbesserung der Lebensumstände auf dieser Welt einzusetzen. Das beißt sich mit Luthers Zwei-Reiche-Lehre, nach der das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist.

Auch in Frankreich hat der Antisemitismus oft als Wurzel, dass man eine politisierte Messias-Erwartung als Irrlehre abstempelt und ablehnt. Die Unterstützung Pétains unter den französischen Protestanten speist sich jedoch auch aus der Aufklärung: ab den 1870er Jahren haben die französischen Protestanten einen bedeutenden geistigen und intellektuellen Einfluss auf Bildung und Wissenschaft in Frankreich.

Das Ideal der Dritten Republik: Immanuel Kants systematische Lebensführung

Sie orientieren sich dabei an Deutschland und rezipieren auch die Moral und die systematische Lebensführung Immanuel Kants (1724-1804), die aufgrund ihrer Wirksamkeit in Karriere und Beruf zu einem Ideal der Dritten Republik (1871-1940) wird; in dieser Zeit wachsen die späteren Kollaborateure auf: der Historiker Patrick Cabanel weist nach, dass es eine "tiefe Verwandtschaft" gibt zwischen dem protestantischen Puritanismus, der geprägt ist vom strengen Moralismus Kants, und dem angekündigten Moralismus der Regierung Pétains: "Dass Pétain zuerst den Protestanten René Gillouin zum General-Sekretär des Bildungsministeriums hat ernennen wollen, ruft, wie in einer Pauskopie (spiegelverkehrt), die Zeit hervor, in der Jules Ferry den Protestanten Ferdinand Buisson zum Bildungsminister machte."

Vor dem Hintergrund der Kollaboration haben die Protestanten heute eine doppelte Verantwortung: erstens die Unrechtstaten der Vergangenheit nicht zu wiederholen, zweitens diese Untaten aus der Distanz als Teil ihrer Geschichte zu sehen und aufzuarbeiten.