"Unser Altersbild ist veraltet!"

Die "jungen Alten": Menschen zwischen 60 und 80, die noch sehr vital und engagementbereit sind - für sich selbst und andere.
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Die "jungen Alten": Menschen zwischen 60 und 80, die noch sehr vital und engagementbereit sind - für sich selbst und andere.
"Unser Altersbild ist veraltet!"
Interview mit Martin Erhardt, Zentrum Bildung der EKHN
Ein Urgroßvater als Bundespräsident, engagierte Ältere in der Flüchtlingsarbeit, neue Ideale, Wohn- und Lebensformen im Alter – aber in den Köpfen bleibt das traditionelle Altersbild hängen. Alt werden habe sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert, meint Martin Erhardt vom Zentrum Bildung der EKHN. Ein Interview über Altersbilder, Älter werden sowie Lebensformen und Engagements im Alter.

Inwieweit stimmt das klassische Bild von Alter mit der Realität überein?

Martin Erhardt: Das klassische Bild vom Alter existiert zwar noch in unseren Köpfen, aber in der Realität findet man es kaum noch vor. Vor allem wenn junge Menschen über Alter nachdenken, ist das Bild eines aktiven Alters unterentwickelt. Viele würden sagen, Urgroßvater und Bundespräsident passt nicht zusammen – aber Joachim Gauck hat sogar schon mehrere Urenkel. Ein anderes Beispiel: Wenn Sie den typischen Frühlings-Motorradfahrern die Helme abnehmen, sind die meistens nicht zwischen 20 und 35, sondern eher zwischen Mitte 50 und Mitte 70. Und trotzdem dominiert das Bild eines jungen, sportlichen Motorradfahrers. Unser Altersbild steht uns im Weg. Wir sehen gar nicht, was im Alter alles möglich ist.

Wie ist das Alter denn heute?

Erhardt: Auffällig ist, dass Menschen individueller altern als früher. Es gibt 60-Jährige, die Pflege- oder Betreuungsbedarf haben, und 80-Jährige, die fit sind und sich noch einmal neu aufstellen. Es gibt auch viel mehr Menschen in Deutschland, die über 100 Jahre alt werden. Dadurch ist eine neue Lebensphase entstanden. Vor allem zwischen 60 und 80 gibt es Menschen, die noch sehr vital sind und ihre Erfahrungen und ihr Wissen weitergeben wollen. Sie wollen selbstbestimmt leben und die Freiheit nutzen, die sich biografisch auftut. Diese neue Lebensphase wird als "Drittes Lebensalter" und die Menschen als "die jungen Alten" beschrieben.

Aber nicht nur das "aktive Altern" ist neu, sondern auch die Aufgaben, die sich einem älterwerdenden Menschen stellen. Sie sind zum Beispiel angehalten, Vorsorge zu treffen und im Alter mehr für sich selbst zu sorgen. Das betrifft nicht nur die Rente oder drohende Altersarmut, sondern auch die Frage, wie und wo ich im Alter wohnen möchte. Die Vorstellung, dass die Familie einen älter werdenden Menschen im Falle eines gebrechlichen Alters betreut, ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr.

"Alter ist keine passive Restlebenszeit"

Müssen wir uns denn von einem generationenübergreifenden Zusammenleben endgültig verabschieden?

Erhardt: Nein. Die Familie als soziales Netz ist durch das Mehr an Flexibilität und Mobilität im Arbeitsleben nicht mehr so stabil, wie es vielleicht mal war. Gleichzeitig entstehen Netze sogenannter "Wahlverwandtschaft". Gerade beim Engagement im Alter entstehen neue Kontakte, neue Beziehungen, neue Freundschaften. Nachdem also die sozialen Vernetzungen des Berufslebens weggebrochen sind, entstehen durch das gemeinsame Engagement mit anderen neue soziale Netze, die da sind, wenn ich selbst Hilfe brauche. Diese neuen sozialen Kontakte lösen andere ab, können aber durchaus auch generationenübergreifend sein.

Welche Chancen ergeben sich durch eine neue aktive Lebensphase im Alter?

Erhardt: Die "jungen Alten" sind meist gebildet, materiell unabhängig, aktiv und gesund. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, sich gesellschaftlich einzubringen und etwas für sich selbst und für andere zu tun. Wenn Menschen mit Anfang oder Mitte 60 in den Ruhestand gehen, haben sie mitunter noch ein Drittel ihres Lebens vor sich. Es handelt sich also anders als in früheren Epochen nicht um eine eher passive "Restlebenszeit", sondern die Menschen müssen auch im Alter ihr Leben gestalten.

Noch vor ein paar Jahren wurde das Altern in körperlicher, geistiger und seelischer Hinsicht als permanente Abwärtsbewegung interpretiert.  Aber inzwischen weiß man, dass ein Mensch auch im Alter noch Neues lernen kann. Älter werden ist in der Entwicklung also sowohl eine Abwärts- als auch eine Aufwärtsbewegung. Daran muss sich auch die Altenarbeit orientieren und anpassen.

"Es geht um ein partnerschaftliches Miteinander."

Wie passt sich die Altenarbeit an die Gruppe der "jungen Alten" an?

Erhardt: Von der kirchlichen Altenarbeit her gesprochen sind die "jungen Alten" eine ganz aktuelle Herausforderung. Die traditionelle Altenarbeit hat etwas Kümmerndes, Unterstützendes, Betreuendes – und das ist für viele alte Menschen hilfreich und sinnvoll. Natürlich ist es wichtig, dass wir weiterhin eine "Altenhilfe" haben, die kommunikativ betreuend, pflegend und unterstützend für und mit alten Menschen tätig ist.

Andere aber gehen mit einer anderen Haltung und mit anderen Werten ins Alter. Mit diesen Menschen muss man auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Es geht also mehr um ein partnerschaftliches Miteinander. Das hat auch Auswirkungen auf das Ehrenamt. Die "Jungen Alten" wollen sich zeitlich begrenzt engagieren. Das klassische Ehrenamt behielt man aber meist bis zum Lebensende. Außerdem ist das traditionelle Ehrenamt eher altruistisch angelegt – man macht hauptsächlich etwas für andere. Die "jungen Alten" wollen sich im Ehrenamt auch selbst verwirklichen. Deshalb ist es zunehmend wichtig, dass wir die Kompetenzen und Ressourcen der "jungen Alten" nutzen, um Angebote für die Gesellschaft und die "Jungen Alten" selbst zu generieren. All das fließt in die Konzepte der "Innovativen Altenarbeit" ein.