Was das Kreuz zeigt

Gottesdienst Solingen
Was das Kreuz zeigt
Gottesdienst aus der Dorper Kirche Solingen
20.03.2016 - 10:05

Predigt zum Nachlesen

„Dass Gott uns Menschen liebt, dass er sogar mich liebt, das glaube ich ja. Aber mit dem Kreuz habe ich gewaltige Probleme.“ Das sagte neulich ein Bekannter im Gespräch. Und er ging noch weiter und meinte: „Dass ein so grausames Symbol in unseren Kirchen hängt, kann ich nicht begreifen. Wäre es nicht das Beste, wir würden das Kreuz aus den Kirchen nehmen und gegen was anderes austauschen?“ So ähnlich hat sich ja auch der bekannte Fernsehpfarrer Jürgen Fliege geäußert. In seinem Buch „Kirchenbeben“ schlägt er folgendes vor: „Vielleicht ein Christussymbol wie der Delphin? Ein Schmetterling? Oder ein Esel? Weniger Blut und mehr Leben wäre hilfreich. Damit kann sich die Gemeinde sehen lassen und sich bei Festen schmücken.“

Jetzt kann man sich über solche Äußerungen ärgern oder lustig machen. Aber dahinter steht ja eine Not, die viele empfinden, die über das Kreuz nachdenken. Eine Not, die ich gut verstehen kann. Und diese Not haben Menschen von Anfang an empfunden. Paulus schreibt, wie sehr das Kreuz vielen seiner Mitmenschen „eine Dummheit oder ein Ärgernis“ war. Ein Kritiker hat einmal gesagt: „Eine Religion, die ein Folterinstrument zu ihrem zentralen Zeichen macht, die muss doch pervers sein.“ Ist da nicht etwas dran? Ich habe mir noch mal klargemacht, wie grausam das Kreuz funktioniert hat: Das Festnageln der Füße sollte den Gekreuzigten daran hindern, zumindest eine Art Schonhaltung einzunehmen, wenn er keine Luft mehr bekam. Ist das nicht krank? Wie viel Intelligenz und Einfallsreichtum hat da jemand aufgebracht, um anderen das Leben zur Hölle zu machen! Der US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump hat letztens vor den Vorwahlen in New Hampshire gesagt: "Ich würde Waterboarding zurückbringen, und ich würde höllisch Schlimmeres als Waterboarding zurückbringen." Sie erinnern sich: Das ist eine Foltermethode, bei der das Opfer ständig das Gefühl hat, zu ertrinken. Ich weiß nicht, was mich mehr erschüttern soll: dass ein Präsidentschaftskandidat eines demokratischen Landes so etwas sagt, ohne mit der Wimper zu zucken. Oder dass er mit solchen Aussagen so viel Zuspruch findet. Folter ist Ausdruck eines kranken Geistes. Und ich sehe das Kreuz zu allererst als Ausdruck einer kranken Welt! Zu der wir alle irgendwie dazugehören, ob es uns gefällt oder nicht. Es ist Zeichen für eine Welt, in der es viel zu viel Leid, Gewalt und Unrecht gibt.

Und die Frage ist doch dann: Was ist das für ein Gott, bei dem wir hier unter dem Kreuz zusammenkommen? Oder was ist das für ein Gottesbild, das viele damit verbinden? Ist das vielleicht auch krank? Ein Gott etwa, der mit einem Menschenopfer zufrieden gestellt werden muss, ein Gott, der Gewalt und Blut sehen muss, damit er einen neuen Anfang machen kann? Wenn es so wäre, wenn das Kreuz ein Symbol wäre, das Gewalt rechtfertigt oder sogar heilig spricht, dann sollten wir es schnellstens aus unseren Kirchen schaffen und durch ein anderes Zeichen ersetzen, oder?

Aber was bedeutet das Kreuz noch? Es kann so viel anderes zeigen. Am Rand einer Landstraße erinnert es zum Beispiel an einen jungen Mann, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Manchmal stehen frische Blumen davor. Als Zeichen einer Hoffnung, die über den Tod hinaus trägt. Oder es zeigt, dass Menschen sich verbunden fühlen mit den Angehörigen und Freunden. Dann ist es ein Zeichen der Solidarität. Oder: Viele tragen ein kleines Kreuz als Schmuck um den Hals. In vielen Ländern Südamerikas wird man dann oft von Straßenkindern angesprochen, die etwas zu essen brauchen. Sie sehen: Das ist ein Christ – und Christen helfen. Da wird das Kreuz zum Zeichen der Nächstenliebe.

 

Das Kreuz am Straßenrand, an einer Halskette, in der Kirche: Da bringt es uns doch einen Gott nahe, der solidarisch ist mit allen, die leiden. Und lädt uns ein, alte Vorstellungen zu hinterfragen. Nehmen wir zum Beispiel diesen wunderbaren Satz aus dem Johannesevangelium, den wir vorhin gehört haben: „Also hat Gott diese Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab …“. Gott gab seinen eigenen Sohn. So heißt es an vielen Stellen. Manche denken dabei gleich an den Tod Jesu. Gott hat Jesus dahingegeben, er hat ihn sozusagen den Henkern in die Hand gegeben. So verstehen sie diesen Satz. Wenn man genauer hinschaut, heißt „geben“ hier etwas anderes. „Geben“ bedeutet nicht: Gott hat seinen Sohn ans Messer geliefert, er hat immer schon geplant, ihn auf diese grausame Weise ums Leben kommen zu lassen. Nein, „Geben“ oder „Übergeben“ meint an diesen Stellen erst mal schlicht und einfach: Gott hat uns seinen Sohn geschenkt! Dieser Mensch ist buchstäblich ein Geschenk Gottes, er selbst und sein ganzes Lebennicht nur sein Tod. Seine Nähe, seine atemberaubende Freiheit, seine offene Art, mit Menschen umzugehen, das heilsame Feld, das ihn umgibt, die Klarheit seiner Worte, – all das ist ein gewaltiges Geschenk. Eine Liebeserklärung Gottes an uns Menschen. Und wenn es im Blick auf das Kreuz heißt: „Gott gibt seinen Sohn“, dann bedeutet das nicht: Gott hat Jesus seinen Henkern in die Hände gespielt. Sondern es heißt: Gott nimmt dieses Geschenk selbst angesichts des Kreuzes nicht zurück. Gott zieht seine Liebeserklärung nicht zurück, nicht einmal in dem Moment, in dem Menschen darauf herumtrampeln. Das ist etwas ganz anderes. In den Tod geben, ans Messer liefern – oder das Geschenk nicht zurücknehmen, sondern dazu stehen, bis zuletzt – das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Das Kreuz zeigt: Gottes Liebe bleibt, obwohl sie verletzt wird.

 

Wenn mich heute jemand fragt: Die Liebe Gottes und das Kreuz – wie passt das zusammen? Dann kann ich nur sagen: Das Kreuz zeigt uns, wie weit Gottes Liebe bereit ist zu gehen. Nämlich buchstäblich bis zum Äußersten. Eine Liebe, die bleibt, obwohl sie verletzt wird. Und manchmal ist es zum Verstehen ja gut, sich zu fragen: Wie hätte es denn anders sein können? Was wäre die Alternative gewesen zu diesem Weg? Spielen wir das doch mal durch: Was für andere Möglichkeiten hätte Jesus gehabt?

Eine Möglichkeit wäre gewesen: Jesus hätte sich mit Gewalt zur Wehr setzen können. So wie Petrus es ja versucht hat im Garten Gethsemane. So wie es Judas vielleicht im Sinn hatte, als er Jesus verraten hat. Nach dem Motto: Wenn Soldaten kommen und ihn festnehmen wollen, dann muss er doch endlich mal zurückschlagen und sich wehren. Das hätte er tun können. Und das hätte ihm vielleicht das Leben gerettet. Nur: dann wäre er auf einem anderen Weg gewesen. Dann wäre er mitten im System von Gewalt und Gegengewalt gewesen, im System von Angst und dem Drang, sich gegen alles und jedes zu verteidigen und zu behaupten. In genau dem System, das diese Welt umspannt wie ein gewaltiges Netzwerk, und in das wir alle irgendwie eingesponnen sind. Die Bibel nennt dieses System Sünde. Und wenn sie von Jesus sagt, er sei ohne Sünde gewesen, dann meint sie, dass Jesus sich eben nicht in dieses System hat hineinziehen lassen. Er hat sich ihm ausgesetzt, ohne sich hineinziehen zu lassen! Ein bewaffneter Aufstand hätte ihm vielleicht das Leben gerettet. Aber dann hätten wir zu ihm sagen können: Willkommen im Club! Soweit waren wir auch schon.

Die andere Möglichkeit: Jesus hätte einfach sagen können „Ich gehe! Ich mache mich doch nicht kaputt für Euch. Bei aller Liebe, aber das tue ich mir nicht an!“ Diese Möglichkeit wird in einem kleinen Vers im Hebräerbrief angedeutet. Da heißt es im 12. Kapitel: „Lasst uns aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens. Obwohl er hätte Freude haben können, hat er das Kreuz erduldet“. „Obwohl er hätte Freude haben können“ – das ist die zweite Möglichkeit. Ein Rückzug, ein „ohne mich“. Dazu hätte Jesus nur nach Galiläa zurückgehen müssen. Er hätte ganz friedlich als Zimmermann arbeiten können. Niemand hätte ihn mehr verfolgt. Oder er hätte ins Ausland gehen können, sich da ein ruhiges und schönes Leben machen, als Rabbi in einer wohlhabenden Gemeinde. Ein Mann mit seinen Gaben und seiner Ausstrahlung – der wäre in vielen Bereichen erfolgreich gewesen. Ohne Zweifel – Jesus hätte „Freude“ haben können. Ohne uns. Und damit hätte auch Gott gesagt: „Mir reicht´s! Ich habe die Nase gestrichen voll von dem, was Ihr in dieser Welt anrichtet! Macht Euren Mist allein! Ihr benehmt Euch, als wärt Ihr die Herren der Welt – bitte, dann seid es auch! Ihr meint doch sowieso, Ihr kämt ohne mich am besten klar – okay, dann lebt ohne mich! Spielt weiter selber Gott – und tragt die Konsequenzen!“ Was, wenn Gott so reden würde! Wir könnten´s ihm nicht verübeln, oder? Was, wenn er endgültig genug hätte und diese Welt sich selber überlassen würde? Das wäre die Hölle! Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Hölle, das ist diese Welt – ohne Gott! Die Bibel erzählt ja an einer Stelle sehr anschaulich, was passiert, wenn Gott wirklich die Nase voll hat von uns: die Sintflutgeschichte beschreibt genau das. Gott schickt eine große Flut und spült das Projekt Menschheit quasi weg. Nur Noah und die Seinen überleben in der Arche. Aber schon diese Geschichte wird um ihres Endes willen erzählt. Es ist eine Rettungsgeschichte. Da heißt es zum Schluss: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf...“ Was ist das für eine Logik? Das ist Gottes Logik! Das ist die Logik seiner Liebe! Und diese verrückte Logik der Liebe Gottes begegnet uns nirgendwo so deutlich wie am Kreuz. Da wird klar: Gott will nicht ohne uns Gott sein! Um keinen Preis!

 

Was zeigt das Kreuz? Es zeigt, wie weit Gottes Liebe zu uns geht. Gott will nicht ohne uns Gott sein. Lieber liefert er sich selbst der geballten Gewalt und Menschenfeindlichkeit aus, als dass er diese Menschheit fallen lässt. Das ist die Botschaft des Kreuzes: Gott hält seine Liebe durch, allem zum Trotz! Er hält diese Welt aus! Er hält – uns aus! Weil er nicht ohne uns Gott sein will!

Bei allem Respekt: Das kann mir ein Delphin nicht sagen! Und auch kein Schmetterling am Straßenrand, an dem der junge Mann seinen tödlichen Unfall hatte. Oder in der Kirche die Sonne oder die sprudelnde Quelle oder was immer wir hier installieren würden. Wie weit Gott geht aus Liebe zu uns, das sagt mir in dieser Tiefe nur das Kreuz. Ich versuche mal, mir das bildlich vorzustellen: Ich käme hier eines Tages in die Kirche, mit einem belasteten Gewissen, weil ich irgendeinen richtig großen Mist gebaut habe. Und dann sehe ich da eine große helle Sonne hängen. Ich glaube nicht, dass mich dieses Zeichen trösten würde. Im Gegenteil, mir würde der gewaltige Abstand noch größer vorkommen zwischen dem Licht hier oben an der Wand und der Dunkelheit in mir. Oder: Ich stelle mir vor, eine Frau betritt diesen Raum, die gerade an schweren Depressionen oder tiefer Trauer leidet. Und sie sieht hier das Bild einer sprudelnden Quelle. Aber in ihrer eigenen Seele sprudelt gar nichts im Moment. Wird sie sich getröstet fühlen? Oder wird sie eher das Gefühl haben: In diese sprudelnde Lebendigkeit passe ich überhaupt nicht rein, so leblos wie ich mich fühle? Wenn wir dagegen jetzt eine Kirche betreten, dann blicken wir mitten auf das Kreuz. Und das bedeutet: Wir blicken auf den Gott, der in unsere tiefsten Tiefen hineingekommen ist, um uns nahe zu sein. Und wenn ich mir das bewusst mache, dann sagt mir das Kreuz: Komm rein! Komm mit all Deiner Last, egal wie Sie aussieht: mit Deiner Schuld, mit Deiner Trauer, mit Deinen Verletzungen. Egal, was Du mitbringst, hier bist Du richtig! Egal, was Dich drückt, ich weiß es längst. Ich weiß, wie Dir zumute ist! Denn ich kenne diese Dunkelheit in Dir und habe sie selbst erlebt. Komm mit Deiner Last hierhin – und leg sie bei mir ab! “

Deswegen lasst uns das Kreuz um Himmels willen nicht entfernen! Lasst es uns stattdessen immer neu meditieren! Und wenn der frühere Fernsehpfarrer Jürgen Fliege von traurigen Kindergesichtern im Blick auf das Kreuz in der Kirche erzählt: ja, die sehe ich auch immer wieder, wenn wir im Kindergartengottesdienst über diese Geschichte sprechen. Aber hat das nicht einfach damit zu tun, dass Kinder ein Herz haben, das mit diesem Mann am Kreuz fühlt? Und bringt es irgendetwas, davon nicht mehr zu reden? Kommt es nicht eher darauf an, wie wir davon reden – mit unseren Kindern, aber auch miteinander? Und was für Konsequenzen wir daraus ziehen? Deswegen: Lassen wir das Kreuz hängen! Als den Ort, an den wir mit allem kommen können, was uns belastet. Als den Ort, der uns davon erzählt, wie weit Gott bereit ist zu gehen – für uns! Und der uns ermutigt, von diesem Gott und seiner Liebe mit unserem eigenen Leben zu erzählen.

Amen.