Typisch männlich, typisch weiblich?

Kleinkind mit einem pinken T-Shirt mit der Aufschrift "I´m a boy!"
Foto: Giorgio Magini/Stocksy United
Typisch männlich, typisch weiblich?
Ein Kommentar zur Kritik am "Gender-Hokuspokus"
Die Kritik an Gender und Gender Mainstreaming trägt weitgehend irrationale Züge. Unterschätzen dürfe man sie gerade deswegen nicht, meint unsere Gastautorin Kristin Bergmann, Leiterin des Referates für Chancengleichheit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Schon die Schlagworte haben es in sich: Mit Entrüstungsbegriffen wie "Gendergaga", "Genderismus", "Gender-Hokuspokus" oder "Genderwahn" wird seit einiger Zeit Kritik an Geschlechterforschung und Gleichstellungspolitik geäußert. Mit dem Erstarken des Rechtspopulismus ist die Genderkritik noch schriller geworden. Dabei treten die Verbindungen rechtspopulistischer Bewegungen mit einigen kirchlichen Kreisen zunehmend deutlich zu Tage. Neben der AfD und der Pegida-Bewegung haben konservativ-katholische Publizist*innen, Bischöfe und Internetforen und auch manche evangelikale und freikirchliche Gruppe die erbitterte Gegnerschaft zu allem, was mit gender in Verbindung gebracht wird, zu einem ihrer Hauptthemen gemacht.

Natürlich lässt sich über Sinn und Zweck mancher gleichstellungspolitischer Maßnahmen, zum Beispiel über die Quote trefflich streiten. Auch der wissenschaftliche Diskurs aller Disziplinen lebt von der Kontroverse. Die radikale Gender-Kritik setzt aber nicht auf den Diskurs sondern auf Verächtlichmachen. Da wird nicht nur die Wissenschaftlichkeit der Geschlechterforschung insgesamt in Frage gestellt. Auffallend ist auch das ungeheure Bedrohungsszenario, das entwickelt wird. Für manche Gender-Gegner steht nicht weniger als die Natur des Menschen auf dem Spiel. Insbesondere in den sozialen Medien verbindet sich Genderkritik mit einer aggressiv abwertenden, feindseligen Kommunikation. Personen, die Geschlechterforschung betreiben oder die Gleichstellung verschiedener Lebens- und Familienformen unterstützen, werden verunglimpft und teilweise bedroht.

Für die lautstarken Gender-Kritiker*innen steht klar fest, was typisch männlich beziehungsweise typisch weiblich ist. Die Unterschiede sind aus dieser Sicht allesamt naturgegeben. Wer das in Frage stellt, will nicht nur die Kinder verunsichern und "frühsexualisieren", sondern stellt sich gegen Gott und will einen neuen Menschen schaffen. Wie kommt man zu solchen Vorstellungen, fragt sich mancher verwundert? Nicht einmal das biologische Geschlecht (englisch sex) ist so glasklar bestimmbar, wie sich die Gender-Kritik wünscht. Der Deutsche Ethikrat – sicher kein Gremium, das  im Ruch steht, ein Sammelbecken von gottlosen Genderforschern zu sein – sagt dazu: "Geschlecht ist kein eindimensionales Merkmal". Vielmehr handelt es sich um die Kombination mehrerer unterschiedlicher Eigenschaften, zu denen die Gene, die Hormone und die anatomische Beschaffenheit gehören – Variationen in der Kombination eingeschlossen.

Auch die Tatsache, dass nicht jeder Mensch als Mann oder Frau geboren wird, passt nicht in das Weltbild der Genderkritiker. Doch jedes zweitausendste Kind, das in Deutschland geboren wird, hat kein eindeutiges Geschlecht. Wer wollte bestreiten, dass es ein genauso von Gott gewollter Mensch ist? Wie irrational es ist, abzustreiten, dass Gesellschaft und Kultur mitbestimmen, was jeweils als weiblich und was als männlich gilt, sollte eigentlich auch nicht mehr erklärungsbedürftig sein. Dass Martin Luther damit kokettierte, seine Katharina als "Herrn Käthe" zu bezeichnen, dass ein Vater in Erziehungszeit noch vor wenigen Jahren als Objekt des Mitleids, aber nicht als "echter Mann" galt, dass Geschlechterbilder – mit Schnullern für den "Bad Boy" und rosafarbenen Prinzessinnenschlössern – heute zunehmend auch die Kinderzimmer erobern, zeigt eindrücklich: soziale Geschlechtsnormen gab und gibt es zu allen Zeiten und an jedem Ort. 

Nicht weniger verstiegen erscheint die Kritik, wenn es um die Rechte sexueller Minderheiten geht. Statt über altersgemäße pädagogische Konzepte der Sexualaufklärung zu diskutieren, werden Lehrpläne, die die gegebene Vielfalt sexueller Identitäten und Orientierungen thematisieren, kurzerhand zu staatlichen Umerziehungsprogrammen, zum Angriff auf die Familie und zur generellen Bedrohung für unsere Kinder deklariert. Dafür wird eine europa-, ja weltweite Verschwörung – wahlweise von Kommunisten, Feministinnen oder Homosexuellen oder auch allen zusammen – verantwortlich gemacht.

Wir brauchen sachliche Diskussion

So unhaltbar die Anwürfe auch sein mögen, unterschätzen darf man sie keineswegs. Die Gender-Kritik ist neben der Flüchtlingsfrage zu einem zentralen Feld des Rechtspopulismus geworden. Hier werden Ängste vor Vielfalt und Diversität geschürt und es ist wie bei jedem spektakulären Gerücht: ob wahr oder nicht, hängen bleibt immer etwas. Wie die Ressentiments gegen Flüchtlinge fällt auch die Gender-Kritik auf zum Teil fruchtbaren Boden. Es gibt so manche Gruppe, die es für durchaus verzichtbar hält, dass Frauen und Männer in Führungspositionen und am Wickeltisch gleichgestellt sind. Dass sexuelle Minderheiten nicht nur toleriert, sondern auch nicht diskriminiert werden wollen und einen Platz in der Mitte der Gesellschaft beanspruchen, ist ebenfalls nicht wenigen ein Ärgernis.

Was folgt daraus? Genderthemen sind in der Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus keinesfalls vernachlässigbar, sondern brauchen Aufmerksamkeit. Sie gehören in die sachliche Diskussion – über die Werte, die unser Zusammenleben leiten sollen, über den Umgang mit biblischen Texten, über das Menschenbild, das uns die Bibel vermitteln will und die Rolle, die Gerechtigkeit, Geschlechtlichkeit und Individualität darin spielen.