Zeit für ein normales Leben

Der Moderator Jürgen Domian
Foto: dpa/Henning Kaiser
Der Moderator Jürgen Domian steht am in seinem Studio beim WDR in Köln und sagt "Tschüß - Letzte Chance für Anrufer".
Zeit für ein normales Leben
Der Nachttalker Jürgen Domian hört auf
Zwei Jahrzehnte lang galt Nighttalker Jürgen Domian als der "Beichtvater der Nation". Doch am 16. Dezember ist endgültig Schluss mit der Radiosendung. Was empfindet er dabei?
15.12.2016
epd
Barbara Driessen

In fast 22 Jahren hat er mehr als 20.000 Anrufe entgegengenommen. Immer offen und authentisch, nie überheblich: Jürgen Domian, der seit 1995 von montags bis freitags jede Nacht das 1Live-Talkradio "Domian" moderiert hat, hört am 16. Dezember endgültig auf. "Es ist eine Mischung aus Wehmut und der Gewissheit, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, mit der Sendung aufzuhören", sagte er dem Evangelischen Pressedienst.

Nach so vielen Jahren Nachtschicht möchte der 58-Jährige endlich wieder "ein normales Leben" führen. Nacht für Nacht hat sich Domian mit den skurrilsten Anrufern auseinandergesetzt. So meldete sich "Charly" auf einem eingeschmuggelten Handy aus dem Knast. Mit einem Scientologen diskutierte er über die "Perfektionierung der Gehirnwäsche". Versuchte Trost zu spenden, wenn ihm weinende Eltern vom Tod ihrer Kinder erzählten. Und er ekelte sich nicht, als ihm "Kathrin" (24) berichtete, dass sie auf eitrige Pickel steht.

Nur ein einziges Mal kämpfte er mit den Tränen

Auf alle seine Anrufer, die zwischen 11 und 96 Jahre alt waren, stellte er sich ein. Meist reagierte er verständnisvoll, doch konnte er auch wütend und ungehalten werden. Etwa dann, wenn er mit Anrufern wie "Nicole" (29) telefonierte, die seit ihrem 16. Lebensjahr von Sozialhilfe lebt und mit fettigen Haaren zu Jobinterviews geht, damit sie niemand nimmt. Ihre vom Staat bezahlte Wohnung hat sie untervermietet. "Du zockst uns ab, betrügst und arbeitest schwarz", warf er ihr vor. "Kannst du nicht verstehen, dass wir da alle sehr wütend sind?"

Deutliche Worte fand er auch bei getürkten Anrufen. Etwa als "Angelika" (22) anrief, um von ihrer Zeit auf der Straße zu erzählen. Sie sei von ihren Eltern geschlagen und rausgeschmissen worden und dann mit 18 schwanger geworden. Als sie sich in Widersprüche verwickelte, fing sie schließlich an, ihn zu beschimpfen und auszulachen. Domian blieb gelassen, stutzte sie aber zurecht: "Über so was macht man keine so üblen Scherze. Denn es gibt viele Leute in so einer Situation, denen es wirklich schlecht geht."



Nur ein einziges Mal in der ganzen Zeit fehlten ihm die Worte. Als ihm der 24-jährige "Simon" von seiner schweren Krebserkrankung im Endstadium erzählte, kämpfte Domian mit den Tränen. Er war so betroffen, dass er nach dem Gespräch 30 Sekunden vergeblich versuchte, die Moderation wiederaufzunehmen. Erst nach einem eingespielten Musiktitel ging es weiter.

Gespräche wie dieses lassen Domian nach eigenem Bekunden demütig werden: "Bei so viel Elend verschwinden meine eigenen Probleme im Nichts." Schon lange gilt der studierte Germanist, Philosoph und Politologe, der beim WDR als Kabelträger anfing, als "Institution" (Frankfurter Rundschau), als "Kummerkasten der Nation" (Die Welt), als "Vertrauenslehrer und Nachtstimme des deutschen Fernsehens" (Die Zeit).

Als ihm 2015 der Sonderpreis des Robert Geisendörfer Preises der evangelischen Kirche verliehen wurde, bezeichnete ihn die evangelische Rundfunkbeauftragte, Pastorin Andrea Schneider, als den "Seelsorger der Nation" und als "Licht in der Nacht". Über seine Sendung sagte sie: "Klar, das ist eine angestrahlte Bühne für Selbstdarstellungs-Vielredner und Sensationslustige. Aber sie ist eben auch ein heller Raum für Mundtot-Gemachte und Lebenslust-Geknickte."

Endlich bekommt er seine Fans zu sehen

Und was wird jetzt aus all denen, die bald nicht mehr bei ihm anrufen können? "Wir bekommen in der Tat seit Monaten Unmengen von Mails, in denen die Menschen ihre Sorge ausdrücken, demnächst keine Anlaufstelle mehr zu haben. Und das tut mir von Herzen leid", sagt Domian. Ihm bleibe nichts weiter, als Menschen in großer Not auf die Telefonseelsorge zu verweisen.

Von Januar bis April wird er nun erst einmal mit einer 1Live-Produktion auf Talk-Tournee durch Nordrhein-Westfalen gehen. "Darauf freue ich mich schon sehr." Denn dann bekommt er seine Fans endlich auch mal zu sehen. Außerdem will er sich mehr dem Bücherschreiben widmen.

Wenn er die Uhr 22 Jahre zurückdrehen könnte, würde er sich wieder so entscheiden? "Auf jeden Fall! Und ich hatte das große Glück, dass der WDR all die Jahre dieses bisweilen schwierige Format gestützt und getragen hat. Man braucht für eine solche Sendung starke Chefs im Rücken. Die hatte ich immer."