Das Gegenteil von Zaudern ist Tun

Passagiere stehen nach der Notlandung im Hudson River auf den Tragflächen des Airbus A320 von US Airways.
Foto: Reuters/Brendan McDermid
Passagiere stehen nach der Notlandung im Hudson River auf den Tragflächen des Airbus A320 von US Airways.
Das Gegenteil von Zaudern ist Tun
An diesem Donnerstag (1. Dezember 2016) kommt der Film "Sully" in die Kinos. Er erzählt die Geschicht des Piloten Chesley B. Sullenberger (Tom Hanks), der im Januar 2009 ein Flugzeug auf dem Hudson notwasserte, was wie durch ein Wunder gelang. Auf Sullenbergers Mut nahm der mittlerweile verstorbene FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher Bezug, als er im Februar 2009 im Eröffnungsgottesdienst zur evangelischen Fastenaktion "Sieben Wochen ohne Zaudern" diese Predigt hielt.

Zaudern ist nicht Zögern. Im Zögern steckt etwas von Nachdenklichkeit, Abwägen, von Vernunft In Zaudern steckt Angst, Scheu und Unsicherheit. Zaudern hat etwas von Zurückweichen, Unschlüssigkeit. Der Schlüssel öffnet die Tür nicht mehr. Die Tür bleibt geschlossen. Manchmal ist es gut, auf das Natürlichste zurückzugehen. Wer zaudert, so heißt es in Brehms Tierleben, dem muss "gut zugeredet werden". Wird uns gut zugeredet? Oder wird uns in der gegenwärtigen Lage nicht nur schlecht eingeredet? Und wenn wir auch umstellt sind von Bildern der großen Zauderer; haben wir eigentlich Bilder und Geschichten von deren Gegenteil – und was ist das Gegenteil von Zaudern? Die Frage beantwortet die Literatur. Schon einer der ersten großen Zauderer der Literatur, Orestes in der Orestie des Aischylos, stellt sie. Sie lautet: "Was tun?" Das Gegenteil von Zaudern ist Tun.

Am 15. Januar 2009 wahrend die Welt über die neuesten finanziellen Horrormel­dungen brütete, flog über den Himmel von New York ein Vogelschwarm, einer von tausenden, die täglich über unseren Köpfen fliegen. Doch dieser Schwarm war nicht einer von Tausenden. Er war der eine, der mit den Triebwerken von US Airways Flight 1549 kollidierte. Was dann geschah, der Ausfall der Triebwerke, die Not­wasserung auf dem Hudson, der Ruhm des Piloten ist wieder und wieder erzählt worden. "Es war eine großartige Leistung", sagte einer der Kommentatoren, aber das Ausmaß des Jubels lässt sich allein dadurch nicht erklären. Er hat damit zu tun, dass eine verunsicherte Welt erlebte, dass es in der wirklichen Welt, nicht in der Welt der Finanzmärkte, funktionierendes "Risk Managment" gibt, das ein Entschluss ausreicht eine ausweglose Situation zu meistern.

Heute berichtet in der New York Times der Fluglotse, was er empfand, als ihm der Pilot seinen Entschluss mitteilte, dass er auf dem Hudson landen werde. "Ich wusste", sagte er, "das war sein Todesurteil. Alle Berechnungen sagen, Menschen überleben solche Notwasserungen auf dem Hudson nicht. Ich wusste, ich war der letzte Mensch, der mit ihm gesprochen haben würde." Das war die Grundlage der Entscheidung: Theorie, Verstand und Mathematik sagten: es ist endet in einer Katastrophe. Das Handeln des Piloten hat nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch die Lehrbücher verändert.

Chesley Sullenberger, der Pilot, hat nicht gezaudert. Er hat nicht auf die innere und äußere Stimme gehört, die ihm sagte, es könne nur schlecht enden. Er hat nicht mehr geredet, nicht mehr gefunkt, er hat nicht einmal mehr Ratschläge eingeholt, sondern gehandelt. Er flog ein vollbesetztes Flugzeug und bewegte sich über eine der bevölkerungsdichtesten Gebiete des Planeten. Hat er gebetet? Auch diese Frage wurde ihm gestellt. Und seine Antwort lautet: "Ich musste mich total konzentrieren. Aber ich war mir sicher, irgendwo dort hinten im Flugzeug würde jemand sitzen, der das für mich übernehmen würde."

Einer stellt den Kontakt zu Gott her

"Zaudern" - das ist das Wort der gegenwärtigen Krise. Deflation ist nicht anderes als ein kollektives Zaudern. Wir sind umfangen von einem ökonomisch gewordenen Zaudern. Banken, die sich und anderen nichts leihen, ganze Industriezweige, die lieber abwarten als handeln und ökonomischen Stimulanzien, die keinen anderen Zweck haben, als dass Leute einen Anreiz verspüren, ihr Zaudern aufzugeben und sich vielleicht doch ein neues Auto zu kaufen. Das ist die Lage des Kollektivs, der Gesellschaft, des Systems.

Aber dann ist da der Fall des Chesley Sullenberger, ein Einzelner, der als Einzelner gegen alle Wahrscheinlichkeit und Statistik handelt. Der sich vertraut. Das ist das eine. Aber auch den anderen. Dass da einer im Flugzeug ist, der für ihn den Kontakt zu Gott herstellt. Also mindestens noch einer, der nicht nur an Neigungswinkel, Sollbruchstellen und Aerodynamik glaubt.

Wer kritisiert und verdammt, was in den letzten Jahren sich zu der heute so genann­ten "Finanzkrise" entwickelt hat, ein Verhalten, das den Gewinn kassiert, aber die Risiken auf alle anderen verteilt, wer sich klarmacht, dass dieses Verhalten nicht zum Maßstab gemeinschaftlicher ethischer Lebensformen führen darf, der darf auch das heutige Zaudern dieser gefallenen Helden von einst nicht zum Maßstab machen. Das Leben, so lautet ein berühmter Satz, lässt sich nicht auf morgen verschieben und das Leben lässt sich auch nicht wie ein Sparplan mit gesicherter Rendite anlegen. Sigmund Freud hat einmal in einem schonen Bild von dem "Zauderrhythmus" unseres Lebens gesprochen. Er hat dafür das Gleichnis der Liebe benutzt. Das Leben braucht Zaudern. Aber – und darum ist es ein Rhythmus – es braucht auch das Gegenteil, die Entscheidung und das Handeln.

Jedes hat seine Zeit, und je stärker der Attentismus der Gesellschaft wird, desto größer die Chancen des Einzelnen durch entschlossenes Handeln seine Lebenswirklichkeit zu verändern. Anfang der siebziger Jahre in der Sowjetunion, Solschenizyn-Schock, Eiszeit, Breschnew-Zeit. Eine verfolgte und fast hoffnungslose jüdische Familie beschließt nach langen Mühen nach Amerika auszuwandern. Die Freunde raten ab. Der Vater setzt sich durch, sie haben ein Baby dabei. Sergeji. Dreißig Jahre später hat dieses Baby Google gegründet und die Medienwelt revolutioniert. Ein junger Mann flüchtet Ende der sechziger Jahre in einem Kofferraum aus Ungarn. Alles spricht gegen die Flucht, es gibt viel bessere Gründe abzuwarten und zu zaudern. Später studiert er Mathematik in den USA und hat die Idee, dass man Texte bald nicht mehr auf Schreibmaschinen sondern auf Computern schreiben werde. Glücklicherweise trifft er auf einen ebenfalls jungen Menschen namens Bill Gates, der das auch glaubt.

Aber nicht die großen Erfolgs­geschichten machen solche Geschichten wertvoll, sondern die Ausgangslage. Diese Menschen befanden sich in gesellschaftlichen Krisen und Aussichtslosigkeiten, die sehr viel gravierender waren als die unseren. Handeln und Nichtzaudern dürfen wir als Lebenskategorien nicht der Ökonomie überlassen. Denn es gibt keinen sicheren return, Zaudern ist wie so vieles in unserem Leben zu einem geradezu ökonomisier­ten Verhaltenmuster geworden. Es ist dann nicht nur Angst und Entschlusslosigkeit, sondern es verbindet sich auch mit Gier und Verlust­angst. Es könnte ja noch was Besseres kommen. Unser kollektives Bewusstsein ist voll von solchen Geschichten, von König Drosselbart bis zu Brechts Mahagonny.

Wer nicht zaudert, sondern han­delt, hat nur einen Gewinn, den aber sicher: einen Gewinn an Autonomie, die Chance vom Objekt zum Subjekt, zum Handelnden zu werden. Nicht lang her, da hat das Max-Plank Institut für Demographie den Zusammenhang beispielsweise zwischen Geburtenrate und Zaudern eindrucksvoll belegt. Und in Italien, wo dieser Zusammen­hang am ausgeprägtesten ist, hat es zu einer interes­santen Diskussion geführt: was, wenn du alles abziehst, was du in den Nachrichten hörst und was du dir über die Zukunft nur ausmalst, was, wenn du nur an dein Jetzt und Hier denkst, nötigt dich zum Zaudern. Lange Zeit waren wir eine Gesellschaft, die verschiebt. In die Zukunft verschiebt. Und diese Verschiebung war geradezu politi­sche Doktrin. Allmählich merken wir, dass die Zukunft, in die wir alle Probleme hinein­verschoben haben, nun Gegenwart geworden ist. Wir haben zu tun mit dem gesam­melten Zaudern, mit all den Vertragungen und Verschiebungen der Vergangenheit.

"Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen"

Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Deutschen ausgerechnet immer die großen Zauderer geliebt haben. Schillers Wallenstein ist so einer, und vor allem Hamlet, über Jahrhunderte der liebste Bühnenheld der Deutschen. "Deutschland ist Hamlet", hat Ferdinand Freiligrath in einem schönen Gedicht gesagt und die Situation des deutschen Vormärz beschrieben. Ach, auch das eine Zeit, von der einzelne glaubten, nichts tun zu können, wo abwarten, Resignation und Unentschlossenheit regierten. Freiligrath kann ihn nicht ertragen, diesen zaudernden Hamlet, dieses zaudernde Land. Hier ein paar seiner Verse:

Er sinnt und träumt und weiß nicht Rat;
Kein Mittel, das die Brust ihm stähle!
Zu einer frischen, mut'gen Tat
Fehlt ihm die frische, mut'ge Seele!

Das macht, er hat zu viel gehockt;
Er lag und las zu viel im Bett.
Er wurde, weil das Blut ihm stockt,
Zu kurz von Atem und zu fett.
Er spann zu viel gelehrtes Werg,
Sein bestes Tun ist eben Denken;
Er stak zu lang in Wittenberg,
Im Hörsaal oder in den Schenken. Gottlob! noch sind wir nicht so weit!
Vier Akte sah´n wir spielen erst!
Hab' acht, Held, dass die Ähnlichkeit Nicht auch im fünften du bewahrst!
Wir hoffen früh, wir hoffen spät:
O, raff dich auf und komm zu Streiche, Und hilf entschlossen, weil es geht,
zu ihrem Recht der flehenden Leiche!

Mach' den Moment zunutze dir!
Noch ist es Zeit - drein mit dem Schwert, Eh' mit französischem Rapier
Dich schnöd vergiftet ein Laert!
Eh' rasselnd naht ein nordisch Heer,
Daß es für sich die Erbschaft nehme!
O, sieh dich vor - ich zweifle sehr,
Ob diesmal es aus Norweg käme!

Nur ein Entschluß! Aufsteht die Bahn –Tritt in die Schranken kühn und dreist! Denk an den Schwur, den du getan,
Und räche deines Vaters Geist!
Wozu dieses Grübeln für und für?
Doch - darf ich schelten, alter Träumer? Bin ich ha selbst ein Stück von dir,
Du ew'ger Zauderer und Säumer!

Geht das, sieben Wochen ohne Zaudern? Schon deshalb geht es, weil man sich präzise die Frage stellen kann, wo man im Leben nicht mehr zaudern will. Wer hindert einen daran zu tun, was man tun will. "Sie werden es bereuen", lautet ein berühmter Satz, den Veränderungswillige zu hören bekommen. Amerikanische Sozialforscher haben sich dieser Fragestellung vor einiger Zeit gewidmet. Bereuen Menschen am Ende des Lebens ihre Lebensentscheidungen? Das Ergebnis ist signifikant: fast niemand bereut Entscheidungen, fast niemand stellt sich ein hypothetisches Leben vor, ein "was wäre wenn" oder "hätt’ ich doch". Menschen bereuen offenbar am Ende, wenn sie das große Resümee zitieren, nicht ihre Entscheidungen sondern Verluste ganz anderer Art: Mangel an Wärme, an Gemeinsamkeit, sie bereuen emotionales Zaudern, gegenüber Kindern, Eltern, Lebenspartnern.

"Ich wusste, dass das jemand für mich tut", sagte der Pilot jenes US Airways Flug­zeugs. Die Literatur kennt nicht nur die großen Zauderer, sondern auch die großen Handelnden, die Aufbrechenden, die auch wissen, dass jemand für sie etwas tut, das sie nicht fallen lässt. Streng genommen finden wir diese Figuren in den ältesten Tex­ten, die wir kennen – gerade so, als habe die Menschheit von Anfang an wert darauf legt, die Geschichte dieser entschlossenen oder urvertrauenden Protagonisten zu erzählen. Noah, Abraham, Jesus – sie alle zaudern im entscheidenden Moment nicht. Ihr Vorbild verändert und ermutigt seit Jahrtausenden nachwachsende Generationen. Einer ihrer größten Zeuge ist Zeuge dieser Kirche. Dietrich Bonhoeffer. Er schrieb:

Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens, nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.

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