Der "Luther-Code" bei Arte: Reformation trifft auf Welt 2016

Daniel Arthur Fischer als Martin Luther in "Der Sprung in die Freiheit"
Foto: EIKON-Media
Daniel Arthur Fischer als Martin Luther in "Der Sprung in die Freiheit"
Der "Luther-Code" bei Arte: Reformation trifft auf Welt 2016
Vor 500 Jahren haben Martin Luther und die reformatorische Bewegung nicht nur eine Erneuerung des Glaubens angestoßen, sondern auch neue Weltsichten ermöglicht. Die These: Unser heutiges Bild von der Welt gründet wesentlich auf den Folgen der Reformation und der Renaissance im 16. Jahrhundert. Wir leben mit dem "Luther-Code", so der Titel einer sechsteiligen Arte-Filmreihe.

Der "Luther-Code" fragt: Wie ist der moderne Mensch entstanden? Und ist er vorbereitet, die Zukunft zu meistern? In der Evangelischen Hochschule Berlin werden alle Teile der Arte-Filmreihe vorgestellt und diskutiert. Nun fand die Auftaktveranstaltung mit dem ersten Teil statt: "Der Sprung in die Freiheit".

In früheren Jahren behandelte Arte religiöse Themen eher nüchtern und unspektakulär. Egal ob es um die Apokalypse oder um Jesus im Islam ging, stets wurden allein Theologen und andere Experten befragt, trocken und lehrreich, ohne filmische Spielszenen. Ganz anders nun im Luther-Code, der im Auftrag des deutsch-französischen Kultursenders von der evangelischen Eikon gGmbH produziert wurde. Hier wird der Zuschauer mit schnellen Schnitten, Moderationstexten und Interview-Einsprengseln überhäuft. Deutlich soll ein vermeintlich jüngeres Publikum angesprochen werden, das vor allem mit Fragen konfrontiert wird: "Die Welt ist unübersichtlich geworden, seit wir uns selbst zum Maß aller Dinge gemacht haben. Was kann heute Geborgenheit und Hoffnung geben? Sind wir am Ende ganz allein?" Fast alle Passagen sind mit teils bedrohlicher Hintergrundatmo und synthetischer Musik unterlegt, um die Dramatik noch zu steigern. Es gibt so gut wie keine Ruhe im Film.

Søren Schumann, Arte-Beauftragter beim mitbeteiligten rbb sagt, dass er auch mit einer mehrmaligen und nachhaltigen Nutzung via Mediathek rechnet. Offensichtlich scheint der nur einmalige Konsum zu schwindelerregend zu sein. Zumindest dringt bei der Vorabvorführung des Films manches durch: Wir leben heute von den Veränderungen, die vor 500 Jahren begannen. "Das Zentrum der neuen Kulturepoche ist Florenz. Leonardo da Vinci und Michelangelo haben sich von Frömmigkeit und Aberglaube befreit und feiern die Schönheit der Kunst. Nicht mehr in den Kirchen allein, sondern auch auf öffentlichen Plätzen. Der Mensch tritt aus dem Dunkel der Geschichte und entdeckt seinen freien Geist."

Neue Techniken bedeuten neue Chancen

Luther war also nur ein Teil der großen Weltveränderung. So erklärt es im Film etwa der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch: "Um 1500 geht die Post ab. Natürlich haben sich die Leute, die den Buchdruck erfunden haben und Kolumbus und die Reconquista-Leute und Luther und so weiter nicht untereinander abgesprochen. Aber sie folgen einem ungeheuren Innovationsprogramm."

Der "Luther-Code" ist keine linear erzählte Dokumentation. Vielmehr wechseln in schnellen Schnitten historische Momentaufnahmen etwa der Reformatoren und Weltveränderer Jan Hus und Martin Luther mit den Aussagen heutiger Macher, Gen-Forscherinnen, Flüchtlingshelfer, Astrophysikerinnen, junge Leute. Heraus kommen Gedankenschnipsel von Menschen wie etwa dem Architekten Van Bo Le-Mentzel, der mit seinen "Hartz-IV-Möbeln" zum Selberbauen bekannt wurde, aber unumwunden zugibt, von Martin Luther keine Ahnung zu haben. Konzept der Reihe ist offensichtlich, dass Reformationsgeschichte auf Welt 2016 trifft. Ein junger Mann klärt etwa über die vermeintliche Dummheit der Eltern-Generation auf: "Gerade jüngere Menschen sind ja ständig online. Diese Trennung zwischen offline-online gibt es gar nicht mehr. Diesen Paradigmenwechsel haben viele Ältere nicht verstanden."

Kein Grund zur Angst aber, wie sie etwa noch die Menschen im Mittelalter vor Gott oder Teufel gehabt hatten. Mit der Reformation begann die Entdeckung der Freiheit des Gewissens. Der Mensch verstand sich als vor Gott verantwortliches Individuum. Wir sind heute zur Weltveränderung befreit. Neue Techniken bedeuten auch neue Chancen. Bei allen Zweifeln wird auch Zukunftsoptimismus im Film verbreitet. Eine Pfarrerin aus Genf etwa versucht via Internet-Botschaften die Herzen ihrer jüngeren Gemeinde zu erreichen.

"Das was wir Glauben nennen, verändert sich. Luther hat sich im Glauben befreit und nachher haben wir uns vom Glauben befreit. Da ist eine Pastorin, die mit dem Internet aktiv nach vorne geht und die Frage von Spiritualität unter die Leute bringt. Das sind Zufallsfunde, plötzlich reibt sich da was und es kommen Funken raus", erklärt Regisseur und Autor Wilfried Hauke.

Der Filmmacher gibt aber auch zu, dass es ein wenig größenwahnsinnig anmutet, 500 Jahre Ideengeschichte in sechs 52-minütige Folgen packen zu wollen, zumal noch weitere historische Gestalten wie Johannes Kepler, Gotthold Ephraim Lessing, Gottfried Wilhelm Leibniz, Friedrich Engels, Bertha von Suttner oder Albert Einstein behandelt werden. Der Leiter der evangelischen Akademie Berlin, Rüdiger Sachau, hält zumindest den Grundansatz der Filmreihe für gelungen: "Der 'Luther-Code' erinnert daran, dass die Reformation nicht nur eine theologische Angelegenheit war, sondern zugleich Ausdruck gesellschaftlicher Umbruchprozesse. Es entstand die Helix der Moderne. Der Gen-Code der Moderne ist in dieser Zeit geprägt worden."

Sind wir heute individueller als damals?

Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, bezweifelt aber, dass wir heute einfach so eine Freiheit genießen, die uns vor 500 Jahren von Luther geschenkt wurde. Freiheit müsse vielmehr in jeder Generation neu erarbeitet werden: "Freiheit ist nicht einfach da. Freiheit entsteht, wenn Menschen in den Strukturen und sozialen Gegebenheiten, in den Herrschaftsverhältnissen, in denen sie leben, sich aufmachen, frei zu werden. Indem sie Übersetzungsarbeit leisten, indem sie versuchen Gedanken, Ideen von anderen aufzunehmen und für sich zu übersetzen, das heißt, sich selber anzueignen."

Und auch ob der moderne Mensch mehr Individuum ist als vor 500 Jahren, bezweifelt Claussen: "Uns wird ja immer die Anmutung entgegengebracht, wir wären frei und individuell. Ob wir das sind, weiß ich gar nicht. Vielleicht waren Martin Luther und andere Reformatoren viel individueller als wir, die wir ganz starke Konformierungen in unserem Individualismus haben. Also die ganz basalen Grundentscheidungen i like – i like not, kaufen – nicht-kaufen, darin soll sich unsere Individualität entfalten?" Auch das also eine zusätzliche Denkaufgabe der Filmreihe. Der "Luther-Code" wird am 29. und 30. Oktober auf Arte erstausgestrahlt.